«delfin» Lesung mit Ralf Bruggmann / Illustrationen von Lea Le

In seinem ebenso berührenden wie brisanten Roman «delfin» verpackt Ralf Bruggmann hochaktuelle Debatten in poetische Gespräche und innere Monologe, die nichts ungerührt lassen. Selbst – oder vielmehr vor allem – den Kern des Menschlichen. Auch mit den Augen kann man in die Geschichte eintauchen. Die Illustratorin Lea Le untermalt die Lesung mit analogen Zeichnungen. Ein Panorama, das während der Lesung aufgedeckt und ergänzt wird.

Ralf Bruggmann
Der gebürtige Herisauer Ralf Bruggmann schreibt kurze und lange Geschichten, Fragmente und Prosatexte und arbeitet in einer Werbeagentur. 2016 gewann er den Jury- und den Publikumspreis des Ausserrhoder Schreibwettbewerbs «Literaturland». Nach der Prosasammlung «Hornhaut» im Jahr 2017 erschien im Herbst 2024 sein erster Roman «delfin» im orte Verlag.
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Lea Le
Lea Le lebt und arbeitet als freischaffende Illustratorin und Comic-Autorin in St.Gallen. Neben Auftragsarbeiten hat sie diverse Comics in Magazinen und Zeitungen veröffentlicht.
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Zum Buch

Ralf Bruggmann «delfin», orte Verlag, 2024, CHF ca. 36.90, 264 Seiten
ISBN 978-3-85830-323-3

An einem Strand findet ein Delfin den Tod. Und auch die Menschen, die in der unteren und oberen Stadt wohnen, sehen sich mit Enden aller Art konfrontiert. Da ist zum Beispiel Nina, die ihren Sohn allein großzieht und sich abmüht, ein Zuhause aufrechtzuerhalten, das langsam, aber sicher vom Meer verschlungen wird. Und da ist Milly, die das Unmögliche versucht, um den Verlust ihres Lebenspartners zu verdrängen. Als sich die ungleichen Frauen in einem kleinen Restaurant an der Küste kennenlernen, keimt aus Einsamkeit eine unerwartete Freundschaft. Gemeinsam scheinen die beiden, sich den Wogen des Lebens stellen und Trost im Untröstlichen finden zu können. Doch das Ende lässt sich nicht aufhalten. Bleibt die Frage: Was kommt danach?

Ralf Bruggmann «Cindy und Bert», Erzählung auf der Plattform Gegenzauber

Ralf Bruggmann «Cindy und Bert», Plattform Gegenzauber

Da ist dieser Teebeutel. Es ist zu bezweifeln, dass es viele gute Geschichten gibt, die mit einem Teebeutel beginnen. Doch einerseits ist es auch zu bezweifeln, dass diese Geschichte eine gute Geschichte ist. Und andererseits steht der Teebeutel nicht am Anfang der Geschichte, sondern mittendrin, und vielleicht sogar schon kurz vor dem Ende. Cindy ist sich diesbezüglich nicht sicher, aber sie hat eine Ahnung.

Cindy fragt sich, wie der Teebeutel dorthin gekommen ist. Cindy fragt sich viele Dinge, unter anderem fragt sich Cindy, warum sie sich so viele Dinge fragt, und sie fragt sich, warum sie so oft keine Antwort kennt. Manchmal denkt Cindy, dass sie dumm sei, doch dann erinnert sie sich an die Titelmusik der Sesamstraße, sie singt im Kopf mit, Der, die, das – wer, wie, was – wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm, und Cindy weiß dann zwar noch immer nicht genau, ob sie dumm ist, aber sie ist sich sicher, dass sie es nicht bleiben will, wenn sie es denn wäre, darum fragt sie sich weiterhin viele Dinge.

Der Teebeutel liegt mitten auf dem Tisch in der Küche von Bert, und eigentlich wollte Cindy nur ein Glas Wasser trinken, denn sie hatte Durst und einen pelzigen Belag auf der Zunge, doch jetzt steht sie da und starrt auf den Teebeutel, als läge in ihm ein elementares Rätsel der Weltgeschichte, und Wasser getrunken hat sie noch immer nicht.

Dass sie in der Küche von Bert steht, liegt daran, dass sie zuvor im Bett von Bert lag, und dass sie im Bett von Bert lag, lag vor allem am Alkohol. Sie hatte wohl angenommen, der Sex mit Bert könnte das Loch füllen, das sich in ihr so unbeirrbar auszubreiten schien, doch eigentlich war es vor allem der Alkohol, der dieses Loch füllte. Bert war nett, Bert war auch ein wenig hübsch, außerdem hatte er eine gute Körperhaltung und gepflegte Finger, doch darüber hinaus war er nichts Besonderes, aber nichts Besonderes war immer noch besser als nichts, hatte sich Cindy gedacht und war mit ihm mitgegangen.

Die Wohnung war gepflegt und sauber, eher lieblos eingerichtet, wie ein Hotelzimmer, nur ohne Bibel in der Schublade. An einer Wand hing ein Bild von Mahatma Gandhi, und das hatte Cindy ein wenig beruhigt, weil Menschen, die sich Bilder von guten Menschen an die Wand hängten, grundsätzlich keine schlechten Menschen sein konnten. Bert erzählte, was er beruflich machte, aber Cindy hat es vergessen. Wahrscheinlich war sie gerade mit dem Bild von Mahatma Gandhi beschäftigt, als Bert von seiner Arbeit berichtete.

Ich will dich ficken, hatte Bert irgendwann in beinahe sachlichem Ton gesagt, daran erinnert sie sich noch, und sie erinnert sich auch daran, dass sie ihm mit einem Schulterzucken geantwortet hatte. An den Sex erinnert sie sich hingegen kaum mehr. Bert hatte komische Geräusche gemacht, gerade so, als hätte er Schmerzen oder Angst oder beides, aber womöglich war er auch einfach vergnügt. Als er einschlief, war sie noch sehr weit von einem Orgasmus entfernt, aber auch darauf hatte sie wohl nur mit einem Schulterzucken reagiert, und nach einigen Minuten war sie ebenfalls eingeschlafen.

Und jetzt steht sie eben vor diesem Teebeutel, einem gebrauchten Teebeutel, der offensichtlich schon seit Tagen auf dem Tisch in der Küche von Bert liegt, denn die wenigen Teetropfen, die ihm noch entronnen waren, haben längst einen trockenen braunen Ring um den Teebeutel gebildet, um die Inszenierung aufzuwerten, und als Cindy den Teebeutel leicht mit dem Finger berührt, ist sie erstaunt, wie hart er sich anfühlt. Als sie ein Kind war, hatte sie eine Maus als Haustier, die Maus hieß Felix, und als Felix starb, fühlte sich sein Körper ganz ähnlich an wie der Teebeutel auf dem Tisch in der Küche von Bert. Sie begrub Felix damals im Garten und ist jetzt umso mehr irritiert, dass Bert den toten Teebeutel einfach auf dem Küchentisch liegen lässt.

Früher gab es ein Schlagerduo namens Cindy & Bert. Das fiel ihr sofort ein, als Bert seinen Namen nannte, und Cindy musste lachen, woraufhin Bert wohl dachte, sie fände seinen Namen lustig. Er kannte Cindy & Bert offensichtlich nicht, denn als sie ihrerseits sagte, wie sie heißt, nickte er lediglich. Der größte Erfolg von Cindy & Bert war das Lied Immer wieder sonntags, und jetzt steht Cindy vor dem Teebeutel in Berts Küche, es ist Sonntag, sie hat keine Meinung zu Cindy & Bert, doch sie ist sich sicher, dass sie kein Interesse daran hat, zwischen sich und dem Bert im Bett ein verbindendes & entstehen zu lassen.

Cindy trinkt endlich einen Schluck Wasser, dann noch einen. Dann betrachtet sie erneut den Teebeutel. Es ist einer jener Teebeutel, deren Etikett mit hübschen Sinnsprüchen versehen sind, mit denen man sein Leben und die Welt verbessern kann. Sie dreht das Etikett des Teebeutels zu sich hin und liest. Sich an jedem Moment zu erfreuen – das ist der Sinn des Lebens. Cindy lächelt, obwohl sie es gar nicht witzig findet, und das Lächeln ist so bitter, dass sie gleich nochmals einen Schluck Wasser trinken muss.

Sie öffnet alle Schränke in der Küche, zieht Schubladen heraus und schiebt sie wieder hinein, bis sie endlich findet, was sie sucht. Sie stellt die kleine Schachtel auf den Tisch, öffnet den Deckel und nimmt einen Teebeutel nach dem anderen hinaus. Fein säuberlich legt sie alle Teebeutel vor sich hin, breitet die gesamte Weisheit auf engstem Raum aus und liest sich dann durch das teebeutelphilosophische Schlaraffenland.

Allen zu dienen, das ist die Kunst, glücklich zu sein. Mach dir selbst und anderen Mut. Wenn wir ganz bei uns selbst sind, sind wir Liebe. Lebe deine Stärken. Geh nur Wege mit Herz. Sei ein Teil der Antwort auf die Probleme dieser Welt. Lebe mit Respekt vor dir selbst und anderen. Schätze die Person, die du bist. Lerne in Stille, dir selbst zuzuhören. Lass dein Verhalten für sich sprechen. Mitgefühl bringt Verständnis. Sei freundlich zu dir selbst. Löse ein Problem und hundert andere verschwinden. Dankbarkeit schenkt viele neue Möglichkeiten. Leben ist Teilen. Geduld zahlt sich aus. Im Vergeben zeigt sich Größe. Hab Mut, deiner Intuition zu folgen. Sei stolz darauf, wer du bist. Manchmal verschwindet alles Komplizierte, wenn ein neuer Morgen erwacht.

Cindy lässt den letzten Teebeutel sinken. Sie zuckt mit den Schultern, starrt auf die gesammelten Sinnsprüche. Dann denkt sie, dass es Zeit ist, allmählich zu verschwinden, am besten, bevor auch für Bert ein neuer Morgen erwacht. Sie sammelt die Teebeutel ein, verstaut alle bis auf einen wieder in der Schachtel und stellt diese zurück in den Schrank. Den gebrauchten Teebeutel lässt sie auf dem Tisch liegen, denn jene Geschichte ist tatsächlich zu Ende. Den ungebrauchten Teebeutel nimmt sie mit.

Ralf Bruggmann, 1977, ist in Herisau in der Schweiz aufgewachsen und lebt heute mit seiner Familie in Speicher. Neben seiner Tätigkeit als Texter in einer Werbeagentur schreibt er Textfragmente, kurze und lange Geschichten und realisiert Literaturprojekte. Zahlreiche Texte sind auf disputnik.com zu finden. 2016 gewann er den Jury- und Publikumspreis beim Schreibwettbewerb «Literaturland» des Amts für Kultur des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Neben Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften erschien 2017 der Prosaband «Hornhaut» in der Edition Outbird. Mit «delfin» erschien im Sepätsommer 2024 im orte Verlag sein erster gedruckter Roman. Zuvor veröffentlichte Ralf das fragmentarische Romanexperiment «Nita verschwindet» im Internet.

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Beitragsbild © Andreas Butz