Adélaïde lebt in der Grossstadt. Sie ist unglücklich. Gepeitscht im Beruf und unerfüllt in der Liebe. Und weil sie sich selbst als Teil eines grossen Fressens sieht, ist alles eine Kampfansage, ob gegen das drohende Alter, den Misserfolg im Beruf oder die bohrenden Einsamkeitsgefühle, wenn sie mit sich selbst bleibt. „Das synthetische Herz“ ist ein literarischer Film noir.
Adélaïde ist frisch geschieden, endlich, befreit. Ausgezogen aus der gemeinsamen Wohnung in ein kleines Appartement mit 35 Quadratmetern; ein paar BILLY-Bücherregale, ein 120cm breites Bett, ein Tisch, vier Stühle, nicht einmal ein Sofa. Nach den zehn Jahren mit Élias eine Befreiung. Adélaïde ist bald fünfzig, noch vier Jahre, erfolgreich als Pressefrau in einem mittelgrossen Verlag und müde von einer Beziehung, aus der sie sich nur noch herausreissen konnte. Mit Élias war sie am längsten zusammen.
Aber statt dass ihr die Befreiung wieder alle Optionen öffnet, schleicht sich schnell Zweifel ein. Nicht zuletzt, weil die Befreiung nach drohender Einsamkeit riecht. Adélaïdes Familie ist inexistent, ihre Eltern kamen, als sie acht war, bei einem schrecklichen Ereignis ums Leben. Adélaïde ist noch immer Waise, bleibt Waise, wartet, dass jemand unerwartet an der Türe klingelt. Ihre Freundinnen sind fest eingespannt und die Beziehungen bei der Arbeit sind zweckgebunden, wenn mehr, dann leicht einem Wettbewerb ausgesetzt, der tatsächliche Nähe verunmöglicht. Der sich anbahnenden Panik zu entgehen stürzt sich Adélaïde in ihre Arbeit, der Betreuung „ihrer“ Autoren, die nach Preisen lechzen, gefüttert und gehätschelt werden wollen. Aber irgendwann reicht es nicht mehr, wächst die Sehnsucht nach einem Gegenüber, einem echten Zuhause, einer Liebe, nach Leidenschaft. Aber was tun, wenn die Klingel ruhig bleibt, wenn man an seiner Attraktivität zu zweifeln beginnt, das Alter im Spiegel nicht mehr abzustreiten ist und man nicht mehr ins Beuteschema all jener zu passen scheint, die sich in langen Nächten auf die Jagd machen.
„Adélaïde wird richtig wütend, würde so gerne auf eine Partnerschaft verzichten können. Sie wäre gern autonom, sich selbst genug. Statt dessen quält sie die Sehnsucht.“
Bis sie eines Abends mit ihren Freundinnen zusammen ist und man aus Jux die Zukunft zu beschwören versucht, nur vordergründig aus Spass, ganz tief aus purer Verzweiflung. Und tatsächlich, nur drei Tage später lernt Adélaïde auf einer Party Martin kennen, Dokumentarfilmer, einer ohne Turnschuhe. Einer, mit dem man sich unterhalten kann, der geistreich ist, Blumen bringt. Mit einem Mal spürt Adélaïde jenen Frühling im Herzen, Euphorie. Plötzlich ist nicht mehr nur der Monat Wonne. Wenn da nur die Adélaïdes Katze nicht wäre. Wenn nur Martin Katzen nicht hassen würde. Wenn nur das „Heiratsjucken“ nicht wäre. Wenn nur seine Gier beim Essen und Trinken nicht wäre und die Ladehemmung.
Adélaïde befreit sich aus der einen Enge, um sich in eine neue zu stürzen. Obwohl sie Vladimir begleitet, ein Omen, ein Geist, ein Traumbild. Vladimir ist ihre Sehnsucht. Er taucht immer dann auf, wenn sich das herbeigesehnte Idealbild in der Realität als Zerrbild entpuppt. Adélaïde, bald fünfzig, sehnt sich nach einem Zustand, der unerreichbar bleibt. Sehnt sich nach einem Ideal, das durch die verlorenen Familie dauernd nach Erfüllung schreit. Kämpft sich durch ein Leben, dass sich bei der Arbeit an Zahlen orientiert, an Aufmerksamkeit, Publicity – im Privaten am Schmerz, nie das zu finden, wonach sie sich im Tiefsten sehnt.
Chloé Delaume schildert Ausweglosigkeit gnadenlos. Da ist zum einen die Situation einer Einsamen, einer Frau, die sich auf Schlachtfeldern behaupten muss, sei es im Beruf oder im Privaten. Alles ist atemloser Kampf. Eine Frau, nicht mehr jung, aber doch noch lange nicht alt im einsamen Labyrinth eines Lebens, in der man die Richtung schon lange nicht mehr aussuchen kann. Zum andern sind es Sätze, die mir bei der Lektüre in die Kniekehlen schlagen, messerscharfe Analysen in einem Satz. Chloé Delaume fühlt einer entleerten Gesellschaft auf den immer schwächer werdenden Puls. „Das synthetische Herz“ schmerzt zuweilen bei der Lektüre, ist realistischer Gegenentwurf zu all den schmalzigen Geschichten auf Papier oder Zelluloid, die nur betäuben.
Chloé Delaume, 1973 in Versailles geboren, verliert als Kind bei einem Familiendrama ihre Eltern und wächst anschließend bei Verwandten auf. Sie studiert Literaturwissenschaften, verlässt die Universität aber, um sich dem Schreiben zu widmen. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit dem Roman «Das synthetische Herz», der in Frankreich ein großer Publikumserfolg war, gewann sie 2020 den renommierten Prix Medicis. Chloé Delaume lebt in Paris.
Claudia Steinitz, 1961 in Berlin geboren. Sie übersetzte u. a. Nancy Huston, Claude Lanzmann, Yannick Haenel, Virginie Despentes und Emma Becker aus dem Französischen. Ausgezeichnet mit dem Johann-Friedrich-von-Cotta-Übersetzerpreis der Landeshauptstadt Stuttgart und dem Jane-Scatcherd-Preis.
Beitragsbild © Hermance Triay