Sonnenaufgang
Winde fegten dich hinweg,
Regenschauer verwischten deine Spuren.
Die Zeit – dieses einsame Meer – riss dich entzwei
und schleppte dich fort
aus dem Fegefeuer meiner Erinnerungen.
Jetzt frag ich mich,
ob es dich überhaupt je gab
oder ob ich dich mir ausdachte
trotzig,
als meine Träume Fleisch wollten,
mein Fleisch nach Liebe schrie – und einem Weg,
als ich zuende träumte
die Einsamkeit des Vogels am frostigen Himmel
und in deinen Augen sah, wie die Sonne aufging.
Rückkehr nach Elena
Meine Heimatstadt, in der ich aufwuchs,
mich verliebte, liebte, in der mein Lachen
wie ein Wasserfall vom Hügel herab über die Plätze rann,
kennt mich nicht mehr.
Stumm geworden ist der schmale Bach,
ein alter Nachbar lächelt von der Todesanzeige,
auch die Eingangstüre vor mir schweigt,
der kleine Balkon, auf dem Efeu rankt.
Wann ist diese Welt nur so verödet,
die noch gestern aus vollem Halse zur Gitarre sang?
Oder ist es nur die Hölle, als Fremder heimzukehren
und Tod lebendig als Erinnerung zu erfahren?
Niemandes Spiegel
Ich möchte niemandes Spiegel sein,
obwohl ich ständig jemandem den Spiegel vorhalte.
Ich möchte kein Wächter von Illusionen sein,
obwohl ich stets die eigenen wahre,
– wenigstens bis sie mich im Korridor erschrecken
und ihren wahren Namen verraten.
Ich möchte nicht der beißende Rauch
über dem fälschlich angezündeten Strohbündel sein,
obwohl meine Fußsohlen angeschmort sind
und ich schon einer Feuertänzerin ähnele.
Ich will auch kein Haustierchen sein –
keine faule Katze, kein Kanarienvogel im Käfig
und kein Fisch in der Aquariumslandschaft.
Doch wenn ich mich einmal nicht erkennen sollte,
dann ist ganz sicher der Spiegel daran schuld.
Meine Mutter
Meine Mutter –
eine mitternächtliche Geige,
die den Mond zum Schlafen bringt.
Meine Mutter –
eine wütende Sense im Sommer,
wenn der Klee seine Blätter entfaltet.
Meine Mutter –
die harte Hand des Lebens,
die mich über knarrende Stege führt.
Meine Mutter –
eine Trauerweide über dem Fluss:
ihre Augen laufen aus,
dem Wind hinterher
mit dem geschulterten Bündel Erinnerungen.
Meine Mutter –
eine Begonienblüte,
die ihren Kopf hängen lässt im Herbst,
wenn die Schwalben fortfliegen.
Meine Mutter . . . Wer ist diese Frau?
Ausgedachte Welt
In ihr werde ich dich verstecken,
damit du mir öffnen kannst,
wenn die da draußen
mir blutige Wunden schlägt
wie das zu klein gewordene Schuhwerk
die Füße eines Mädchens, das
partout nicht groß werden will . . .
Eine Linde will ich dir pflanzen,
Jasmin und Flieder,
dir eine Sonne gebären,
eine Quelle dir weinen
in der Abenddämmerung,
wenn der Tag seine eisernen Tore
hinter meinem Rücken zuschlägt,
der Regen seine Metallzapfen
in mein Gesicht bohrt,
wenn mich ganze Scharen ersticken
mit ihrer selbstzufriedenen Ausdünstung
nach Wohlstand und Erfolg,
wenn ich mich frage,
ob ich noch ich bin
und du noch auf mich wartest
in meiner ausgedachten Welt
in der ich dich unbedingt
eines Tages verstecken will,
damit du mir in Erinnerung rufst,
dass es mich noch gibt.
(alle Gedichte aus «Niemandes Spiegel»)
Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband „Niemandes Spiegel“ sowie der Erzählband „Unerwartet“ vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: „Vaters Land“ (2014) und „Nicht mehr“ (2016), «Entscheidung» (2020)
Rezension «Nicht mehr» auf literaturblatt.ch
Rezension «Entscheidung» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Alexander Jecker