Ulrike Ulrich «Zeit ihres Lebens», Berlin

Die Schriftstellerin Liane Steffen verbringt einige Monate in einer Gästewohnung in Paris. Ein Schreibaufenthalt, Zeit, um den Spuren ihres Schreibens, den Spuren ihrer Gedanken zu folgen. Zeit, um Klarheit zu schaffen in einer Zeit, in der ein Virus vieles in Frage stellt. Zeit um eine Frau wiederzuentdecken, der man in Paris 1845 wegen einer lesbischen Beziehung den Prozess machte, eine Schriftstellerin, der letztlich als Feministin der Prozess gemacht wurde.

Liane geniesst das Abtauchen in die Stadt Paris, das Abtauchen ins Alleinsein, ins Quartier, die Cafés, die Läden, die Strassen, das Abtauchen in all die Geschichten, die die Menschen um sie herum mit sich herumtragen, jenen Menschen, denen sie immer und immer wieder begegnet, auf der Strasse, an den Nebentischen im Café. Das Abtauchen in Erinnerungen an ihre Freundin Jana, die vor ein paar Jahren an Krebs sterben musste, an ihren Lebensmensch, ihre Freundin. Das Abtauchen in die Recherche um ein Schreibprojekt, während dem sie auf die fast vergessenen Schriftstellerin, Näherin, Gefängniswärterin und Mutter Louise Crombach stösst, die vor fast 200 Jahren als feministische Schriftstellerin ihrer Gutgläubigkeit zum Opfer fiel. „Zeit ihres Lebens“ ist ein buchlanger Brief an eben diese Freundin Jana, die wie sie Schriftstellerin war, der sie in diesem Buch das zu erklären versucht, was auf der einen Seite das Virus und auf der anderen Seite ihre intensiven Recherchen zutage brachten.

Ulrike Ulrich «Zeit ihres Lebens», Berlin, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-8270-1523-5

Sie ist auf Abstand zu ihrem Lebenspartner Carmine, zu ihrem Sohn Tom, der in London lebt, zu ihrem Verleger Zlotan, der sie in Paris besucht und sie ermuntert, aus dem, was mit ihrem Schreiben passiert, ein Buch zu machen. Hier der Abstand zu ihrem Leben sonst, hier die Nähe zu ihrem Leben hier, zu den Menschen, mit denen sie ins Gespräch kommt, deren Leben sich mit ihrem verknotet, wenn sie der Obdachlosen zu einer Impfung und einer Brille verhilft, wenn sie mit einem Lehrer aus dem Quartier bis in die Banlieues fährt, wenn sie sich zu Recherchen in den Archiven im Netz und in der Stadt verliert und mehr und mehr im Leben einer Frau, die sie als Schriftstellerin und Feministin fasziniert, der sie buchstäblich auf die Spur zu kommen versucht, von der sie Fragen beantwortet bekommen will. „Zeit ihres Lebens“ ist die Spur einer leidenschaftlichen Suche in Vergangenheit und Gegenwart. So sehr die Trauer um den Tod ihrer Freundin Jana vor 8 Jahren noch immer nicht verklungen ist, so sehr steigt die Neugier und Faszination für eine Frau, deren Erinnerung sie nicht verblassen lassen will. So wie der buchlange Brief an ihre Freundin genauso ein Akt des Vergegenwärtigen, des Nichtvergessens wird.

Lianes Wohnung, in der sie für die paar Monate wohnt, liegt im Montmartre, einem der vielen Schmelztiegel der Stadt, dort, wo sich wie nirgendwo sonst in der Stadt der Wunsch vieler eingenistet hat, aus ihrem Tun, ihrer Sehnsucht Kunst zu machen. Einem Ort der Gegensätze, wenn man die vielen kleinen Zelte derer sieht, die sich so die letzte Chance eines Dachs nehmen, die ihr Leben zu einer einzigen Demonstration werden lassen. „Zeit ihres Lebens“ ist die Spur durch dieses befristete Stück Leben. Nicht zuletzt das Protokoll einer intensiven Auseinandersetzung der Entstehung eines Textes, der Suche nach einer Spur, der Suche nach Sprache. Ein Parisroman, der das Mäandern im Innenleben einer Suchenden zur Maxime werden lässt. Ein Roman, der genau das beschreibt, was sonst in der Spur von Schriftsteller*innen verborgen bleibt, wenn sie ein Buch auf den Markt bringen. „Zeit ihres Lebens“ beschreibt die Auseinandersetzung davor, bis zu dem Punkt, aus dem eine Biographie der Schriftstellerin Louise Crombach werden könnte. „Zeit ihres Lebens“ beschreibt ein Stück Zeit eines Lebens – intensiv, leidenschaftlich, mit dem unsäglichen Bedürfnis nach Tiefe. Spannung für einmal ganz anders!

im Literaturhaus Zürich

Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt seit 2004 als Schriftstellerin in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman «fern bleiben», dem 2013 der Roman «Hinter den Augen» folgte, und 2015 der Erzählband «Draussen um diese Zeit». Mit Svenja Herrmann hat sie Anthologien zum 60. und 70. Geburtstag der Menschenrechte herausgegeben. Mit Axmed Cabdullahi erschien «Ein Alphabet vom Schreiben und Unterwegssein». Ihre Texte wurden u. a. mit dem Walter Serner-Preis 2010, dem Lilly-Ronchetti-Preis 2011 und Anerkennungspreisen der Stadt Zürich ausgezeichnet. 2016 erhielt Ulrike Ulrich ein Werkjahr der Stadt Zürich und 2018 einen Pro Helvetia-Werkbeitrag für den Roman „Während wir feiern“, der 2020 erschien und im Jahr darauf mit dem Festival „Zürich liest ein Buch“ gefeiert wurde.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ute Schendel

«Der Tod mein Freund? Er ist die Entfernung, die wir zum Leben brauchen» Husch Josten «Die Gleichzeitigkeit der Dinge», Berlin (17)

Lieber Bär

„Die Gleichzeitigkeit der Dinge“ – ein ungeheures Stück Literatur. Ein seltsamer Roman, bei dem die Autorin alles tut, was Literatur kann und gleichzeitig alles wagt, woran man scheitern könnte. Husch Josten erzählt, fabuliert, meditiert, philosophiert, bohrt und denkt nach. Sie erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, von Sourie, der sich vom Sterben und Tod faszinieren lässt ohne todessehnsüchtig zu sein. Von der Liebe zu einer älteren Frau, die nicht nur mit dem Sterben zu kämpfen hat, sondern sich im Schweif ihres viel jüngeren Geliebten fotografisch mit den letzten Bildern des Lebens beschäftigt, die Gesichter jener fotografiert, bei denen sich die Geschichten in den Falten eingegraben, die sich von den Anfängen verabschiedet haben. Von der Freundschaft zu einem Mann, der eine Gastwirtschaft führt, in der Sourie und Tessa Stammgäste werden.

Husch Josten wagt alles, weil sie sich in ein Thema schreibt, dem die meisten Menschen ein Leben lang geflissentlich aus dem Weg gehen und sich nur dann damit beschäftigen, wenn sie durch Umstände dazu gezwungen werden, durch einen Unfall, Krankheit, durch scheinbares Unglück, die Unwiederbringlichkeit der Endgültigkeit. Ich selbst habe die ersten fünfzig Jahre meines Lebens so getan, als gäbe es meine Endlichkeit nicht, als wäre ich unsterblich, wäre Lebenszeit ein Kontinuum. Selbst als vor 25 Jahren mein Vater starb, damals war er jünger als ich jetzt, war es sein Tod. Noch Monate später sah ich im Blick auf einen Männerrücken in der Strassenbahn meinen Vater, hätte mich nicht gewundert, wenn er seine Hand auf meine Schulter gelegt hätte. Heute bin ich ein alter Mann, zumindest aus der Sicht meiner Enkel. Eben Grossvater. Ich lebe noch immer, als wäre ein nächster Morgen logische Konsequenz, absolute Selbstverständlichkeit. Und wenn mich in langen Nächten dann doch einmal ein kalter Atem anhaucht, dann packt mich Panik. Wir hätten ein Leben lang Zeit, uns mit dem letzten grossen Abenteuer anzufreunden, oder zumindest jene letzte Reise nicht einfach auszusperren. 

Husch Josten beschäftigt sich einen Roman lang mit Sterben und Tod mit einer Unmittelbarheit, die schaudern lässt. Der Sog ihres Erzählens zieht mich nicht in die Tiefe, auch nicht hin zu sentimentaler Trauer, sondern rüttelt mich auf, weckt mich zumindest einen Roman lang, aber wahrscheinlich, wie in diesem Brief sichtbar, noch lange darüber hinaus. 

Husch Josten «Die Gleichzeitigkeit der Dinge*, Berlin, 2024, 224 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-8270-1513-6

Ich hatte das grosse Bedürfnis, diesen Roman langsam, stückweise zu lesen, in kleinen Portionen, nicht nur, weil ich den Genuss des Mäanderns so lange wie möglich geniessen wollte, sondern weil mich ihre Sprache betörte, die Intensität der Bilder und Situationen, der Dialoge und Gedanken.

Du warst ein Leben lang Arzt und bist mit Sterben und Tod viel intensiver in Kontakt gekommen als ich. Was du mir nur an jenem einen Abend am Kamin erzählt hast, hat mich nicht wegen der Thematik erschüttert, sondern weil mir bewusst wurde, wie gut ausgerichtet meine Scheuklappen sind. Wie ging es Dir bei der Lektüre dieses Romans?

Ich freue mich auf Deine Gedanken.

Liebgruss

Gallus

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Lieber Gallus

Durch Mitmachen in einem neuen Lesezirkel kam ich zum Buch «Die Gleichzeitigkeit der Dinge» von Husch Josten. Zuerst dachte ich: Was für ein komischer Name, noch nie gehört! Nun bin ich froh, diese Autorin kennengelernt zu haben. Ein Werk, das mich als pensionierten Hausarzt sofort packt und beschäftigt. Klug, anregend und spannend zu lesen ist das Zusammentreffen der drei Hauptprotagonisten Sourie, Tessa und Jean gestaltet. Der Student Sourie arbeitet als Pförtner in einem Pflegeheim, wo die Fotografin Tessa nach dem Tod ihres Vaters das Zimmer räumen muss. So lernen sie sich kennen und treffen sich bei Jean im Restaurant Tobelmann. Jean hat sein Literaturstudium aufgegeben, den elterlichen Betrieb übernommen und wurde von seiner Partnerin Sanya verlassen. 

Sourie freute sich auf den Tod. Der erste Satz dieses Buches führt direkt zur Auseinandersetzung um Leben und Sterben. Sourie weiter: «Um den Tod erklären zu können, muss man sterben. Ich glaube, dass wir Verstorbene vor allem deswegen ehren, weil sie uns diesen Schritt voraus sind: Sie wissen`s jetzt und können es uns nicht mehr erzählen.» «Wir ehren sie für ihr Leben», korrigierte Tessa entschieden. «Für ihr Dasein. Ihr Vermächtnis. Nicht für ihren transzendentalen Vorsprung.»

Sourie hat bei einem Attentat überlebt, wo sein Freund erschossen wurde. Er muss sein Leben neugestalten. Tessa ihrerseits hat in kurzer Zeit die Eltern verloren und trauert. Trauer ist nicht rational. Sie besteht aus vielen Gedanken und Gefühlen. 

Der Tod spielt eine wichtige Rolle, aber es geht eigentlich um das Leben. Wie ein Mitbewohner des Pflegeheims sagt: «Es gibt ja grundsätzlich zwei Philosophien zur Frage des Alters. Die eine lautet: Alles zu regeln, in Ordnung und zu Papier zu bringen, wie es so schön heisst, und dann beruhigt und entspannt abzuwarten, was noch kommt. Die andere: den Tod nach Kräften ignorieren, immer neue Pläne machen, und bloss nichts regeln, da sowieso alles anders kommen wird, als man denkt.» 

Die Liebe zwischen dem jungen Sourie und der fast dreissig Jahre älteren verheirateten Tessa und Jean’s Reaktion, als Sanya mit ihrem Kind plötzlich vor der Türe steht und zurückkehren will, zeigen uns, was möglich wird, wenn Konventionen und Erwartungen in den Hintergrund treten. Es gibt keine allgemeingültige Richtigkeit. Wir geben den Dingen einen Sinn, wenn und weil wir es wollen, aber an sich haben sie keinen. Was dazu geführt hat, dass Sourie so über das Leben und den Tod denkt, erfahren wir erst gegen Ende des Romans.

Ein Buch, das auf literarisch meisterhafte Weise zum Nachdenken anregt. Es ist eine Lektüre, die uns auch am Ende unserer Tage ermuntert, Neues noch zu planen.

Mit herzlichem Gruss

Bär

© Judith Wagner

Husch Josten, geboren 1969, studierte Geschichte und Staatsrecht in Köln und Paris. Sie volontierte und arbeitete als Journalistin in beiden Städten, bis sie Mitte der 2000er-Jahre nach London zog, wo sie als Autorin für Tageszeitungen und Magazine tätig war. 2011 debütierte sie mit dem Roman «In Sachen Joseph», der für den aspekte-Literaturpreis nominiert wurde. 2019 wurde ihr der renommierte Literaturpreis der Konrad Adenauer Stiftung verliehen. Husch Josten lebt heute wieder in Köln. 

„Hier sind Drachen“, Rezension