Anna Prizkau ist jung und schreibt jung, schreibt Kurzgeschichten, weil sie es mag, da sie, so meint sie in einem Interview, von LeserInnen viel mehr abverlangen, weil man nicht einfach über eine Seite hinweglesen kann. «Fast ein neues Leben» ist das Buch einer jungen Frau, die anzukommen versucht; in einem Land, einer Sprache, bei den Menschen, in ihrem Schreiben.
Die Protagonistin, die in allen zwölf Geschichten im Zentrum steht, ist in einem fremden Land, weggegangen mit ihrer Familie aus einem alten Land, einer alten Stadt. Ein Mädchen und später eine junge Frau, die mit allen Mitteln versucht, eine Hiesige zu sein, und der man das Etikett der Ausländerin unvermeidlich und immer wieder auf die Stirn klebt. Ein Mädchen, das sich ihrer Familie, ihrer Eltern schämt, die nicht will, dass die Eltern bei Schulanlässen auftauchen und stets Bauarbeiten vorschiebt, um einen Grund zu haben, dass Freundinnen nicht bei ihr zuhause auftauchen. Ein Mädchen, das aber nur schwer verstehen kann, warum man abends bei andern bloss kalt isst und nicht gekocht wird, warum der Vater fehlt, warum alles so piekfein eingerichtet sein kann, dass man den Eindruck hat, es werde dort gar nicht gelebt. Ein Mädchen, eine junge Frau, die allein gelassen ist, weil sie sich alle Antworten selbst geben muss, weil sie sich hinausgestossen fühlt, nur geduldet. Ein Mädchen, eine junge Frau zwischen zwei Welten, die kaum etwas miteinander zu tun zu haben scheinen, von der Sprache bis zu den Gerüchen.
Jeder fragt «Woher kommst du?», eine Frage die unweigerlich zur Ausländerin macht. Ein Frage, die stigmatisiert. Ein Frage, die permanent wegstösst. Die Protagonistin in den zwölf Geschichten ist nirgends zuhause, nicht im alten, nicht im neuen Land. Nicht einmal in den brüchigen Freundschaften, die sie mit kleinen und grossen Lügen aufrecht zu erhalten versucht. Nicht in der Wohnung zuhause, wo die Mutter hinter verschlossener Tür im Badezimmer weint. Nicht bei den Mitschülerinnen, bei denen sie in eine Rolle gezwängt wird, bei denen sie genau spürt, wie viele Abgründe sich hinter den Kulissen auftun. Sie will eigentlich nur am Leben teilnehmen, am Leben in dem neuen Land, in der Schule, in einer Freundschaft, in der man getragen wird. Und trotzdem wird sie immer und immer wieder zur Aussenseiterin, in eine Isolation gestossen, aus der sie sich nicht lösen kann.
«Fast ein neues Leben» ist aber auch ein Blick auf ein Land, auf Deutschland. Ein Land, das wie alle anderen von Ängsten zerrissen wird. «Fast ein neues Leben» sind die Geschichten einer Geschlagenen, einer Geschlagenen des Lebens, einer wirklich Geschlagenen, die man im Dunkeln niederknüppelt. Auch wenn das Buch nur wenig mehr als hundert Seiten hat, ist es tief und birgt ein grosses Versprechen für die Zukunft. Zwölf Geschichten mit langem Nachhall!
Anna Prizkau, 1986 in Moskau geboren, seit 1994 in Deutschland. Sie studierte in Hamburg und Berlin und hat als Kellnerin, Barkeeperin, Zeitungsausträgerin, Hostess, Probandin und Kunsthändlerin gearbeitet, bevor sie Journalistin wurde. Seit 2012 schreibt sie als freie Autorin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin über Ausländer, über Deutschland und andere Länder und über Literatur. Seit 2016 ist sie Redakteurin der F.A.S.
Beitragsbilder © Julia von Vietinghoff