Andreas Hillger «EI_LAND», Osburg

Schon mal ein Solei gegessen? Bis zur Lektüre von „Ei_Land“ kannte ich diese Art von haltbar gemachten, gekochten Eiern nicht. Mit der Lektüre dieses köstlichen Romans ist nicht nur die Lust auf ein solches Ei gewachsen, sondern auch jene, endlich einmal einen Blick in jene schwarzen Löcher zu werfen, die der Hunger nach Kohle in unser Nachbarland schürft und in das literarische Werk eines Schriftstellers, der mir bis jetzt entgangen ist.

Es öffnen sich riesige Löcher in Deutschland; Kohletagebau. Und an den Rändern, die sich immer tiefer in die Landschaft fressen, zerfallen Geistersiedlungen. In einer dieser Siedlungen, in einem kleinen Dorf, harren ein paar alte Männer, die sich nicht bewegen lassen, die einen aus Trotz, die andern weil sie nicht mehr können oder weil ihnen der Ort jenes Versteck bietet, das es braucht, um in Ruhe gelassen zu werden. Ein Haufen alter Kerle, die eigentlich nichts mehr wollen, schon gar nicht, dass man ihnen den letzten Rest ihres Lebens nimmt.

Mitten im Winter, viel Schnee liegt auf den Strassen, verirrt sich ein Fremder ins Dorf. Und weil sein Auto stecken bleibt und er zu erfrieren droht, tritt er ein, in das, was von aussen wie eine Dorfkneipe aussieht. Wolters, ein Makler „des guten Geschmacks“ will nur eine Nacht bleiben und dann wieder weg vom Ende der Welt. Aber die Dorfkneipe ist längst keine Kneipe mehr mit Ausschank und Speisekarte. Jeder muss sein Zeug selber mitbringen. Man trifft sich dort, die letzten Verbliebenen als eine Art Dorfrat, der im Turnus immer wieder einen neuen Vorstand, eine Art Bürgermeister bestimmt. Weil Wolters ganz offensichtlich Hunger hat, bietet man ihm Soleier an, zusammen mit Pfeffer, Salz, Senf, Essig, Öl und Worcestersauce. Soleier werden in einem Sud aus Wasser, Salz und Kräutern haltbar gemacht, nachdem man die Eier hartgekocht mit gebrochener Schale mit dem heissen Sud übergiesst und in grossen Einmachgläsern aufbewahrt. Der Fremde bekommt eine Schlafstelle bei Hagen Siegfried, einem der Gebliebenen, der im Haus einer Frau wohnt, die ihm, als auch er sich ins Dorf verirrte, ihr Haus als Erbe vermachte, weil es sonst niemanden gab, nicht einmal mehr einen Friedhof, auf dem man die toten Angehörigen hätte besuchen können.

Andreas Hillger «EI_LAND», Osborn, 2021, 250 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-95510-255-5

Aber Wolters ist Geschäftsmann. Und weil er nicht mitansehen kann, wie die sechs Männer, der von oben bis unten tätowierte Liebig, der hagere Werner, Lokführer Herbert, der ehemalige Gastwirt Joachim, der „König ohne Land“ und Konrad der Gewohnheitstrinker nur mehr warten und harren, was da kommt, macht er den Mannen den Vorschlag, aus den Soleeiern ein Geschäft zu machen, aus der Not eine Tugend; The Egg from the Edge! Es gäbe in den Städten, den hippen Bars und angesagten Lokalen Potenzial genug, um die urigen Soleier vom Ende der Welt an zahlungskräftige Konsument:innen zu bringen. Ein Stück alte Kultur, ein Relikt aus der Vergangenheit, etwas „Echtes“ für den kleinen Hunger zwischendurch.
Was am Anfang Stirnrunzeln verursacht, kommt, angefeuert durch Scarlett, die singende Tochter des Gastwirts immer mehr in Fahrt. Man kauft Orloffs, Altenglische Kämpfer und Deutsche Reichshühner, man richtet sich ein; Ställe mit Freilauf, ein eigentliches Labor, in dem man nach Rezepturen forscht. Liebig kommt gar auf die Idee, den Eiern durch die Schale hindurch eine verborgene Tätowierung zu verpassen. Die Maschinerie beginnt zu laufen. Bis der Motor durch einen Haufen Muskelmänner ins Stocken gerät.

Was Andreas Hillger literarisch einkocht, ist pures Lesevergnügen. Zum einen das Personal, seien es die schrägen Typen im Dorf, die singende Scarlett mit ihrer Band «Drei Schwestern“, die die Kampflieder rund um das Experiment EI_LAND singen, sei es die Kulisse, dieses Geisterdorf am Randes zum Nichts, sei es die Welle aus eine Mischung aus Enthusiasmus, Gier und Schnapsidee, die sechs Figuren auf standby in Aufruhr versetzt. Andreas Hillger sprudelt aber auch sprachlich, gibt dem Geschehen jene gesellschaftskritische Würze, die aus dem Roman viel mehr als eine Geschichte macht. „EI_LAND“ ist eine Parabel über den alten Mann, der es der Welt noch einmal beweisen will!

Grosses Lesevergnügen, das Hunger auf noch viel mehr als nur Buchstaben macht!

Interview

Sechs müde Männer am Abgrund, die noch einmal alles auf eine Karte setzen, auf ihr Ei des Kolumbus. Da das leere Loch in der Landschaft, ein kaputtes Dorf am Rand, ein Gasthaus mit verlorener Lizenz, ein im Schneegestöber festgefahrener Fremder und ein Glas mit eingelegten Eiern – wie sind sie auf die Idee gekommen?

Das war eine Mischung aus verschiedenen Inspirationen – oder Aromen, wie man im Fall der Soleier wohl sagen müsste. Zunächst wollte ich nach zwei historischen Romanen in der Gegenwart ankommen und dabei einen anderen, etwas groteskeren Tonfall finden. Dann beobachtete ich bei längeren Aufenthalten in Berlin das absurde Tempo, mit dem dort Moden und Trends wechseln – auch in der Gastronomie, deren Entwicklungen ich als neugieriger Dilettant verfolge. Und schliesslich fand ich das Thema gewissermassen vor der Haustür: Ich lebe in Dessau, die nächsten Braunkohle-Gruben und Baggerseen sind nicht weit entfernt, als Kind waren die vier Schornsteine des Kraftwerks Vockerode eine unübersehbare Landmarke für mich. Also ist „EI_LAND“ in gewisser Weise auch ein Heimatroman – ein Genre, das in der deutschsprachigen Gegenwarts-Literatur ja fröhliche Urständ feiert und dabei eine tiefe Sehnsucht nach Herkunft bedient. Dass ich die Geschichte dann in die Lausitz verlegt habe, liegt einerseits an der fortwährenden Präsenz des Tagebaus in dieser Landschaft und andererseits an meiner Liebe zur sorbischen Kultur, die trotz unmittelbarer Nähe so fern wirkt. 

Sie sind ein Theatermensch. Das spürt man ihrem Roman an, gibt ihm die klaren Konturen, die Dramaturgie und die markige Kulisse. Was gibt den Ausschlag, ob sie einen Stoff zu einem Bühnenstück machen oder zu einem Roman?

Das ist schwer zu beantworten. Einige Themen – etwa die Geschichte des barocken Augenarztes John Taylor, der sowohl Johann Sebastian Bach als auch Georg Friedrich Händel vom Grauen Star befreien wollte – habe ich sowohl im Prosatext als auch für die Bühne verarbeitet. Im Roman kann ich eine Atmosphäre jenseits der direkten Rede schaffen, die im Theater von anderen Künstlern kreiert wird. Jedes Schauspiel, jedes Musical entsteht im kollektiven Prozess, was im Idealfall eine grosse Bereicherung für den Autor sein kann – aber natürlich auch Leidensfähigkeit voraussetzt. Immerhin kann man sich im Falle des Scheiterns darauf verlassen, dass die Inszenierung irgendwann von der Bildfläche verschwindet. Die Arbeit am Roman ist einsamer, fast ein wenig asozial – aber im Ergebnis eben auch dauerhafter. Ich liebe es, zwischen diesen Gattungen zu wechseln und zwischendurch immer wieder auch dramaturgisch zu arbeiten. Und „EI_LAND“ sollte ursprünglich tatsächlich ein Musical werden. Damals ging es allerdings noch um Pumpernickel …  

Ihr Roman ist vielschichtig, in Vielem eine Groteske und doch ganz nah an der Wirklichkeit, ein Schelmenroman, auch wenn die Protagonisten alte Männer sind, durchaus eine Satire und hinter allem Gesellschaftskritik. Ich spüre als Leser das Vergnügen des Schreibens, des Fabulierens, des Zuspitzens. Männer und ihre Eier! Mussten Sie sich gegen das Überborden stemmen?

Ich versuche beim Schreiben, mich selbst bei Laune zu halten – und freue mich immer wieder, wenn mir die Wirklichkeit dabei hilft. Viele Details der Geschichte habe ich selbst erst entdeckt, als das Thema bereits feststand und meine Herrenrunde in Schwarzmühl bereits Position bezogen hatte. Das Deutsche Reichshuhn etwa oder die absurde Geschichte der Kirchen, die man behutsam aus den abzubaggernden Dörfern entfernt, um sie an anderen Orten als leere Hüllen ohne Gemeinde wieder aufzubauen … das muss man sich doch nicht ausdenken, das ist alles tatsächlich da! Das Mit- und Beschreiben der Realität habe ich als Journalist gelernt, nach meinem Seitenwechsel kann ich die Tatsachen nun mit mehr Phantasie verknüpfen. Und dabei liebe ich das Überbordende.

Haben Sie zuhause in Ihrer Küche auch einmal Eier in Soleier verwandelt? Mögen Sie sie noch immer?

Andreas Hillger mit einem Denkmal für die „Lutki“ im Spreewald-Ort Burg

Die aufwändige Zubereitung – also das Würzen mit Essig und Öl, Senf und Worchestersauce – hat in der Familie meiner Frau Tradition. Mich hat dieser Kult, der mit dem Einfachsten getrieben wird, immer zugleich amüsiert und gerührt. Gelegentlich beteilige ich mich noch immer daran … Aus meiner Jugend kenne ich zudem noch die Eckkneipen, in denen das Glas mit den eingelegten Eiern auf dem Tresen stand und die zumindest im Osten Deutschlands nach der Wende fast vollständig verschwunden sind, was man als Verlust eines Kulturgutes durchaus bedauern kann. Aber es gibt ja Hoffnung: Kurz nach Erscheinen von „EI_LAND“ las ich im Netz, dass Migros in der Schweiz tatsächlich jene vegane Variante auf den Markt bringt, an deren Herstellung meine Männer im Roman so lange erfolglos arbeiten. Dass sie tatsächlich aus Tofu hergestellt wird, wie es ja auch im Buch geschieht, hat mich sehr amüsiert – ebenso wie der futuristische Name „V-Love The Boiled“, gegen den mein „Soul-Eye“ nachgerade banal wirkt. So wird das hartgekochte Ei für biobewusste Trendsetter fashionabel. Manchmal ist der Text eben doch klüger als der Autor.

Über jedem der Kapitel steht eine Strophe der „Drei Schwestern“, einer Frauenband, angeführt von Scarlett, die wegen der Liebe zum Film diesen Namen trägt. Manchmal beissende Kommentare, die sich stets reimen, wie eine musikalische Stimme, die sich von Bühnenrand immer wieder ins Geschehen mit einmischt. Kamen diese Strophen im Nachhinein dazu? Hören Sie sie beim Schreiben?

Ich spiele gern mit solchen zweiten Ebenen, die als Orientierung oder Kommentar gelesen werden können. In meinem Bauhaus-Roman „gläserne zeit“ hatte ich den Protagonisten die drei Grundformen Dreieck, Kreis und Quadrat zugeordnet, in „Ortolan“ gab es kleine Piktogramme für die Hauptfiguren. Für „EI_LAND“ muss ich mir nun tatsächlich den Vorwurf des Plagiats machen – auch wenn ich nur bei mir selbst abgeschrieben habe. Fast alle Strophen stammen aus Musicals und Oratorien, die ich mit verschiedenen Komponisten geschrieben habe. Wenn es bissig wird, sind es meist Texte aus der Neubearbeitung von John Gays „Beggar’s Opera/Polly“, die zusammen mit Christoph Reuter für das Anhaltische Theater Dessau entstand – oder aus dem Fugger-Musical „Herz aus Gold“, das Stephan Kanyar und ich für das Staatstheater Augsburg schreiben durften. Andere Zeilen sind aus der Kinderoper „Oskar und die Groschenbande“ oder aus dem Melanchthon-Oratorium „Gott allein die Ehr‘“ entliehen. Aber weil die darstellende eben auch eine flüchtige Kunst ist, wollte ich den Fragmenten ein wenig Dauer verleihen – die ich beim Schreiben tatsächlich im Ohr hatte, weil sie ja bereits melodisch ausformuliert sind. Daher habe ich sie den „Drei Schwestern“ in den Mund gelegt, deren Name natürlich auf Tschechow verweist – und auf ein Leben im toten Winkel, das von Sehnsucht nach der Grossstadt verzehrt wird. Das schien mir irgendwie passend.

Andreas Hillger arbeitet nach langer journalistischer Tätigkeit als freier Autor und Dramaturg. Sein Hauptinteresse gilt dabei historischen Themen, die er oft auf dem Theater verhandelt – so u.a. zuletzt im mehrfach ausgezeichneten Fugger-Musical «Herz aus Gold» für das Staatstheater Augsburg oder im Melanchthon-Oratorium «Got.alein/die.Ehr». Bei Osburg erschienen seine Romane «Gläserne Zeit» (2013) und «Ortolan» (2020).

Webseite des Autors

Beitragsbilder © privat