Vielleicht ist es die Sehnsucht nach dem Unerklärbaren, dem Mythischen, jenen Kräften in der Natur, die einem verblüffen. Vielleicht ist es die Faszination des Sagenhaften, des nur schwer Erklärbaren. Aber vielleicht die Art des Erzählens, dass da einer mit geschmeidiger Sprache und Stimme ganz nah an die Urthemen allen Denkens und Handelns kommt. «Der See der Seelen» ist ein Geschenk!
Schon in seinen früheren Büchern, allen voran «Quatemberkinder» oder «Vrenelis Gärtli», zeigte der umtriebige Schriftsteller Tim Krohn seine Nähe zur Sagenwelt. Und genauso sind in seiner neuen «Alpensaga» Geschichte, Landschaft und Figuren nicht bloss Kulisse und Personal, denn «Der See der Seelen» spielt mit der Klangfarbe jener Geschichten, die das Unerklärliche erklären wollen, dem Ton, ohne in einen antiquierten Singsang zu verfallen. «Der See der Seelen» beschäftigt sich auf 80 Seiten mit den grossen Themen des Lebens; Familie, Liebe, Freundschaft, Tod, zeitlos, in ein Szenario eingebettet, das aus der Zeit gefallen scheint, nicht abgehoben, aber entrückt, nicht weltfremd, aber vielleicht zivilisationsfremd. Vielleicht steckt hier eine der vielen Gründe meiner Faszination; die Sehnsucht nach dem Urtümlichen, dem Nicht-Technisierten, dem einzig von den Naturgewalten Abhängigen.
Niculina lebt mit ihren Eltern auf einem kleinen Hof in den Bergen. Das Leben im Dorf ist hart, die Existenz der Familie von vielem bedroht. Nicht zuletzt von der Krankheit der Nona, Niculinas Grossmutter, die im gleichen Dorf lebt und sich die Medizin, die sie bräuchte, nicht mehr kaufen will und kann. Niculina treibt jeden Morgen die Ziegen hinauf auf die Weiden über dem Dorf. Dort trifft sie Ladina, ihre Freundin, und seit diesem Sommer Peider, den Sohn des einzigen Kaufmanns im Dorf. Peider muss keine Ziegen hüten. Er hütet sein Giki Gäki in seinem sagenhaften Buch, dessen Erklärungen er den Mädchen wie die Wahrheit verkauft. Für Niculina, die durch die Krankheit der Grossmutter, durch den drohenden Tod und die Geheimnisse, die in der Natur verborgen sind nach Antworten sucht, macht sich auf, um im See der Seelen das Lebenswasser zu finden, jenes Wasser, das die Grossmutter unsterblich machen soll. Von geheimnisvollen Doppelwesen geführt bis ins Wolfstal in eine geheimnisvolle Höhle unter dem Piz Spiert.
«Der See der Seelen» ist das Schwesterbuch seiner 2010 bei Galiani erschienen Bergnovelle «Der Geist am Berg». Schon damals spielte die Geschichte an den Flanken der selben Berge. «Der See der Seelen» bezaubert in vielerlei Hinsicht. Geschichte und Sprache vereinen sich zu einem Kunstwerk. Und dass dem Kampa Verlag so viel daran lag, aus diesem Büchlein ein wahres Kleinod zu gestalten, freut den Büchernarren ganz besonders. «Der See der Seelen» erwärmt die Seele!
Tim Krohn, 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane, z. B. «Quatemberkinder» (1998) oder «Vrenelis Gärtli» (2007), Erzählbände, Theaterstücke und zuletzt die Romane „Herr Brechbühl sucht eine Katze“, „Erich Wyss übt den freien Fall“ (beide 2017), «Julia Sommer sät aus» (2018) und neu bei Kampa die Krimis «Engadin Abgründe» (2018) und «Endstation Engadin» (2019) unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder.
Zudem betreibt der Autor zusammen mit seiner Frau und Schriftstellerin Micha Friemel das Haus Parli, ein Schreibort, ein Ort für den kreativen Rückzug, eine Oase der Stille, für (fast) alle offen.
«Bäcker am Ofenpass» eine Geschichte auf gegenzauber.literaturblatt.ch von Tim Krohn
Rezension von «Herr Brechbühl übt den freien Fall» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Sandra Kottonau