Kuno Roth «Allein mit dem Schreiben und mit sich in Irland», Plattform Gegenzauber

Oktober 2023, dort oben im Nordwesten Irlands, an der Küste, entspricht das Wetter dem Vorurteil: Wind, Wolken, Regen und ab und zu die Sonne. Dort in Glencolmcille*, wo ich mich für vier Wochen zum lyrischen Schreiben niederlasse:

Nun stehe ich hier.
Habe mich 
an den Rand der Welt gestellt.
Blicke 
auf Klippen und das Meer
für Rückblicke, Einblicke, Ausblicke.
Augenblicke, die mir gehören.
Möge mich dieser Schatz 
auf Empfang stellen.

Empfänglich war ich der Wind- und Grautöne wegen namentlich auch für melancholische Stimmungen. Was zum Schreiben treiben kann:

Der Nebel nähert sich
auf leisen Pfoten.
Schleicht über den Hügel,
breitet seinen grauen Schal 
über Bucht und Dorf
aus.
Liegt auf der Lauer, 
lugt,
steigt unvermittelt ab.

Glencolmcille? Der Name Glencolmcille bedeutet ‘das Tal von Colm Cille’. Colm Cille ist einer der drei Schutzheiligen Irlands; ein Priester, der im 6. Jahrhundert eine Zeit lang hier lebte. Es gibt noch ein paar Spuren von ihm, zu welchen ein nach ihm benannter Pilgerweg führt. 
Mein Pilgern verläuft auf anderen Wegen. Man kann sie er-fahren: Die Strassen sind verkehrsarm, das mit dem Linksverkehr kriegt man hin. Man kann sie er-wandern: Eine der Wanderungen führt weglos nach Port. Und dort den Wellen zusehen und zuhören: 

Kommt die Flut,
rollen die Kiesel uferwärts,
rollen zurück, lässt die Welle wieder locker,
reiben sich.
Glatt geworden vom vielen Rollen.
Die nächste Welle rollt sie abermals hinauf.
Das Meer als Sisyphus?
Nein, nur Meer.
Gelassen 
Dinge ins Rollen bringen.

Illustration: Markus Reich (Ausschnitt «zurück, lässt die Welle …)

 Und einem Schaf zuzusehen, das sich unbeobachtet fühlt:

Das Schaf sucht 
maulunten
nach Grashalmen, 
kommt auf ein Stück Weide,
wie zuvor schon Mähscharen.
Es zupft und rupft und zupft.
Unablässig wie ein Friseur,
der einen weiteren Millimeter Haar
über seinen Kamm schert.

Es ist ein Pilgern abseits der ausgetretenen Pfade des Alltags. Offenen Sinnes absichtslos durch die Natur, sodann durch Wörter und Zeilen streifen, die aus der Feder tropfen. Äussere Landschaften, die sich zu inneren verdichten:

Eine Oase der Ruhe, trotz oder wegen dem Rauschen des Meeres und des Windes. Das Licht ändert sich minütlich. Eine atemberaubend schöne Gegend mit hohen Klippen, eine raue, heidenreiche Landschaft, die bei Sonnenuntergang himmlisch leuchtet, freilich eher selten:

Schreiben hautnah an der Sache. Zum Beispiel eine Krähe betrachten und plötzlich taucht eine Frage auf: 

Man versteht nicht,
warum die Krähe im Regen 
und gegen den Wind fliegt.
Mühelos, scheint es.
Was gewinnt sie, das zu tun?
Längst ist sie weiter,
lässt den Gedanken,
den sie nicht hat,
beim Beobachter zurück.

Dieses Hautnahe machte es auch, dass ich Schreibblockaden kaum bemerkte. Ging es nicht weiter, ging ich nach draussen, streckte die Fühler aus und beobachte, was geschah. Ging das nicht, ging ich nach drinnen, Fühler weiterhin ausgestreckt: Auszeit ist auch Inzeit. 
Vier Wochen alleine mit mir und dem Schreiben und ohne News, sind ein enormes Privileg. Nicht immer nur einfach, die Stimmungen schwankten zwar nicht wie das Wetter, aber doch auch. 
Und ich hatte zwei Anker: Rückmeldungen von Zuhause und von Schreibfreund:innen sowie als Abwechslung die bereits verfassten Gedichte, die ich mitnahm und die fürs neue Buch noch gehobelt und geschliffen werden wollten.

* Glencolmcille ist zwar klein und abgelegen, und doch auch ein Kulturort mit einem Zentrum für gälische Sprache und keltische Kultur, einem Freilichtmuseum, einer Schafwoll-Manufaktur sowie zwei Pubs mit Musik am Wochenende. Und im Winterhalbjahr gibt es ein Angebot für einmonatige ‘Art-Residencies’ – Informationen bei stefanhofmann7@gmail.com.

Kuno Roth schreibt Gedichte, Aphorismen und Kolumnen (letztere bei Kampagnenforum und BVM). Seine letzten Veröffentlichungen sind «Im Rosten viel Neues» (Gedichte, 2016), «Aussicht von der Einsicht» (Aphorismen, 2018) sowie ‹KL!MA VISTA – Die Schneefallgrenze steigt› (2. Aufl. 2022, bei ProLyrica). Sein nächstes Buch – ‘seelensee’ mit u.a. einigen Gedichten aus Glen – erscheint im Herbst 2024.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, nunmehr Humanökologe, Experte für Lernprozesse sowie Schriftsteller, arbeitete zuletzt als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. Frisch pensioniert ist er weiterhin als Berater tätig und Co-Präsident von Solafrica.