Eine Irrfahrt durch Minenfelder
Abbas Khider balanciert in seinem Roman «Der Erinnerungsfälscher» zwischen Fakt und Fiktion: Die Hauptfigur flieht aus dem Irak und weigert sich schlicht, sich zu erinnern.
Gastbeitrag von Elodie Kolb
Elodie Kolb studiert vergleichende Literaturwissenschaften im Master an der Uni Basel und arbeitet nebenbei als Redaktorin bei der «bz Basel».
Was am Schluss des neuen Romans von Abbas Khider bleibt, ist ein grosses Misstrauen: Ein Misstrauen gegenüber allem, was die Hauptfigur in «Der Erinnerungsfälscher» erzählt. Denn der aus dem Irak geflüchtete Said Al-Wahid leidet nicht nur an einer Erinnerungsschwäche, sondern füllt die Lücken mit erfundenen Geschichten auf.
Said sitzt an einem trüben Sommertag im ICE Richtung Berlin, als er vom nahenden Tod seiner kranken Mutter in Bagdad erfährt. Komm so schnell wie möglich her, drängt sein Bruder am Telefon. Statt also wie geplant zu Frau und Kind zurückzufahren, begibt sich Said auf eine Reise in den Osten. Auf Umwegen – direkte Flüge gibt es seit Ewigkeiten nicht mehr – landet er als einziger Economy-Passagier in Bagdad.
Eine Irrfahrt ist nicht nur die Reise in seine Heimat, sondern auch jene, die er durch sein Gedächtnis unternimmt. Es ist eine homerische Odyssee, wie mit dem Namen von Saids Sohn, Ilias, subtil angedeutet ist. Die Hinrichtung von Saids Vaters viele Jahre zuvor, die Flucht über Jordanien, Ägypten, Griechenland und schliesslich sein Alltag in Deutschland: Saids Erinnerungsfetzen an sein Leben sind wie Puzzleteile. Er weiss weder, welche wahr und welche erfunden sind, noch lassen sich die Fragmente zu einem Bild zusammensetzen.
Erst als er sich als Schriftsteller versucht und an seinem Gedächtnis scheitert, wird ihm seine Erinnerungsschwäche richtig bewusst. Der anstrengenden Arbeit sich zu erinnern, entgeht Said ganz bewusst: Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reissen. Viel angenehmer — und besser für das Storytelling — sind erfundene Geschichten. Und doch wird die Konfrontation durch die Reise nach Bagdad und das Wiedersehen mit der Familie unumgänglich.
Das Unvermögen sich zu erinnern, spiegelt Abbas Khider an einzelnen Stellen mit aneinandergereihten Fragen: Hat Saids Mutter nur gearbeitet und nie Zeit gehabt, mit ihren Kindern zu spielen? Oder hat er die Antwort im Labyrinth seines Gedächtnisses verloren? Was den Roman vorantreibt, ist das Misstrauen gegenüber dem unzuverlässigen Erzähler: Welche der erzählten Geschichten über Saids Flucht sind wahr? Oder hat er diese gar gänzlich erfunden?
Weil er sich nicht erinnert, fehlt Said eine Identität: In Deutschland wird er zum Inländer auf Papier, im vom Krieg versehrten Bagdad spürte er die Fremde mächtiger als in den fernen Ländern. Diese Verzweiflung treibt Abbas Khider in der verkrampften Gewohnheit Saids auf die Spitze, immer seinen Reisepass bei sich zu tragen; auch im Supermarkt um die Ecke.
Mit «Der Erinnerungsfälscher» bleibt Abbas Khider dem Genre der Migrationsliteratur treu und zeigt auf feinfühlige Art, was Krieg und Flucht mit einem Menschen machen können. Er reflektiert Rassismuserfahrungen in Deutschland subtil, teils ironisch: etwa, wenn Said denkt, er sei die Blumenvase in der NGO, ein bisschen Farbe zwischen den weiss gestrichenen Wänden.
Sprachlich ist der Text ein Seiltanz zwischen Plattitüden und Pathos, der Khider nur teilweise gelingt: Mitunter rutscht er ab in Floskeln, wenn Said auf der Flucht die Städte wechselt, wie andere ihre Hemden. Oder wird pathetisch, wenn sich im Irak die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden drehen.
Zwischen Floskeln und detailreichen Beobachtungen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Fakt und Fiktion: Nicht nur die Reise Said Al-Wahids ist eine Irrfahrt, sondern auch der Roman. Eine Odyssee durch ein Leben, die zum Nachdenken über das eigene Erinnerungsvermögen anregt. Und was der Roman hinterlässt, ist die Erkenntnis, dass wir früher oder später alle auf die Minen unseres Lebens treten.
(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)
Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Mit 19 Jahren wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung floh er 1996 aus dem Irak und hielt sich in verschiedenen Ländern auf. Seit 2000 lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie in München und Potsdam. 2008 erschien sein Debütroman «Der falsche Inder», es folgten die Romane «Die Orangen des Präsidenten» (2011) und «Brief in die Auberginenrepublik» (2013). Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, zuletzt wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Hilde-Domin-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. Ausserdem war er im Jahre 2017 Mainzer Stadtschreiber. Abbas Khider lebt zurzeit in Berlin. Bei Hanser erschienen von ihm «Ohrfeige», «Deutsch für alle» (Das endgültige Lehrbuch), und «Palast der Miserablen».
Beitragsbild © Peter-Andreas Hassiepen