«Das schwarze Königreich» trifft mitten in die Weichteile. Szczepan Twardochs neuer Roman prügelt mich aus dem schummrigen Gefühl der Zufriedenheit und zeigt schonungslos, was in den Tiefen der menschlichen Abgründe lauert und jederzeit wie Magma zum Vorschein kommen kann.
Es muss während meiner Ausbildung gewesen sein, als mich «Mila 18», ein Wälzer von Leon Uris, in seinen Bann zog und mich die Geschichte des Warschauer Ghettos während des aussichtslosen Widerstands der jüdischen WiderstandskämpferInnen gegen die Übermacht des nationalsozialistischen Gewaltapparats nicht mehr losliess. Szczepan Twardochs Roman «Das schwarze Königreich» erzählt aus der gleichen Zeit. Aber mit dem grossen Unterschied, dass es bei ihm keine HeldInnen gibt. Und wenn es sie gibt, dann sind es verzweifelte, gebrochene und gequälte HeldInnen.
Was hält Menschen trotz all der Schrecken, all des Leidens, all der Ängste am Leben? Was ist wirklich stärker; die Liebe oder der Hass? Was taugt mehr zum blanken Überleben? Was passiert mit dem, was wir als Menschlichkeit erhöhen, wenn in den Schlachten eines Krieges alle Masken, alle Hemmungen fallen?
Szczepan Twardochs „Das schwarze Königreich“ ist angesichts all der Vergleiche, der sich selbst ernannte Querdenker auf Demonstrationen und in ihren digitalen Kanälen bedienen, ein Mahnmal dafür, wie wenig Menschen aus der Geschichte lernen, wie sehr man sich Zusammenhänge bedient, die gar nicht existieren und wie leicht sich Geschichte instrumentalisieren lässt. In einer Gegenwart, in der Kühlschränke noch immer voll sind, jeder seinen eigenen Mist als Wahrheit verkaufen kann, ein Gesundheitssystem alles tut, um jedem, der es braucht, zu helfen, Bankomaten jeden bedienen und die Arbeitslosigkeit erstaunlich tief bleibt, ist jeder Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit während der Hochblüte von Nationalsozialismus und Faschismus ein Hohn.
Szczepan Twardoch beschreibt jenes tiefe Loch, dass sich in jenen Jahren auftat, jenen dunklen, schwarzen Kontinent, der während Jahren alles Licht in Schwärze umzuwandeln schien. Szczepan Twardochs Roman gibt den Blick frei in die Tiefen der menschlichen Abgründe, ungeschönt, nie unterscheidend zwischen den Guten und den Bösen. Das Töten und Sterben, das Grauen und Vernichten ist überall. Und ganz bestimmt in seiner dunkelsten Konzentration an Orten wie dem Warschauer Ghetto 1943, als sich eine verhältnismässig kleine Gruppe aufständischer Juden gegen ihre Deportation in die staatlichen Konzentrationslager zur Wehr setzte und den Vernichtungslagern wie Treblinka, in denen die Tötungsindustrie Wehrlose zu Abertausenden nach ihrem Hertransport in Viehwagons vergaste und verbrannte.
Die polnische Leuchtfigur der Gegenwartsliteratur will weder erklären noch beweisen, nicht einmal verstehen. Szczepan Twardochs Roman ist ein Versuch, jene Zeit und deren Geschehnisse nicht zu entfremden, sie nicht zu beschönigen. In jenem Königreich regiert der Wille zu überleben, die Macht des Stärkeren. Szczepan Twardoch erzählt von Jakub Shapiro, einem Warschauer Juden, König seiner Unterwelt. Von einem Mann, der sein Recht mit Fäusten und mit Geld zu zementieren wusste, einer Geschichte, die Szczepan Twardoch schon in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen Roman „Der Boxer“ zu erzählen begann. „Der Boxer“ war der Aufstieg Jakub Shapiros, „Das schwarze Königreich“ sein ungebremster Niedergang. Aber Szczepan Twardochs neuer Roman ist viel mehr als eine Fortsetzung. Szczepan Twardoch erzählt von ganz vielen Leben. Von Ryfka, der Geliebten Jakubs, die ihn in den Trümmern des Ghettos in die Postapokalypse zu retten versucht. Von Jakubs Zwillingsöhnen Daniel und David, dem einen als engelhafter Begleiter in den sicheren Vernichtungstod, dem anderen als Retter und Kämpfer. Von Emilia, Jakubs betrogener und gedemütigter Ehefrau, die alles was ihr bleibt mit dem letzten Rest ihrer Liebe nackt und geschoren ins Gas trägt.
„Das schwarze Königreich“ ist wahrhaft schwarz, über weite Strecken nicht leicht zu lesen. Szczepan Twardoch verklärt nichts und beschreibt alles in seiner tiefsten Grausamkeit. Und doch ist die beschriebene Brutalität nicht Selbstzweck und genüssliche Inszenierung. Szczepan Twardoch peitscht mich durch Wahrheiten, die ich allzu leicht auszublenden versuche. Die Menschen in seinem Roman sind aller Sicherheiten beraubt, aus der Zeit gehoben, in höchstem Masse sich selbst überlassen. Zitate wie „Gerechtigkeit ist die lachhafteste aller Fiktionen, an die die Menschen glauben“ sind Speerspitzen, die sich in mein Herz bohren.
Dass sich ein Mann mit Jahrgang 1979 in jene Geschehnisse, die vor über 40 Jahren seiner Zeitrechnung den Beginn jenes „schwarzen Königreichs“ öffneten, derart tief hineinschreiben kann, ist mehr als Empathie, mehr als Recherche, mehr als Imagination. Szczepan Twardoch ist ein Grosser!
Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer» sowie das Tagebuch «Wale und Nachtfalter». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.
Der Übersetzer Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitet seit 1996 als Osteuropareferent für den Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Beitragsbild © Zuza Krajewska