«Stirb nicht, bitte stirb nicht.» Han Kang in «Weiß»(14)

Lieber Gallus

Nun liegt es auf dem Tisch: ein edles Buch in Weiss mit drei Wörtern in Schwarz und einer zarten weissen Feder darüber. Ich nehme es sehr sorgfältig in die Hand.

So verlassen wir den festen Grund, den unser Leben uns bis dahin geboten hat, und tun diesen letzten gefährlichen Schritt ins Leere, ohne zu zögern. Nicht weil wir besonders mutig wären, sondern weil es keine Alternative gibt. Ohne Wenn und Aber wage ich den Schritt in eine Zeit, die ich noch nicht gelebt habe, und in ein Buch, das ich noch nicht geschrieben habe.

Han Kang «Weiß», Aufbau 2020, aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee, 151 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-351-03722-2

Dieses 2020 auf Deutsch erschienene Werk der diesjährigen Nobelpreisträgerin erschüttert, beglückt und tröstet. In sehr persönlichen und tief bewegenden Bildern gelingt es der Autorin, die prägende Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen der Mutter als Neugeborenes starb, poetisch in Sprache umzusetzen. Das weisse Cover mit der schwarzen Schrift unter einer filigranen Feder und die Fotos von Han Kang und Douglas Seok bilden zusammen mit dem Text ein kostbares Schatzkästchen, dessen Reichtum durch langsame mehrmalige Lektüre jedes Mal aufs neue bewegt.

Stirb nicht, bitte stirb nicht. Diese Worte, die sie nicht verstand, waren das Einzige, was sie in ihrem Leben hören sollte.

Meine Mutter lag auf der Seite, ihr Kind an die Brust gedrückt, und fühlte, wie die Kälte in den kleinen Körper kroch. Tränen hatte sie keine mehr.

Ein Jahr nach dem Verlust ihrer ersten Tochter hatte meine Mutter eine weitere Frühgeburt. Dieses Mal war es ein Junge.

Wenn du noch lebtest, könnte folglich ich nicht sein. Da ich jetzt lebe, darfst du nicht existieren.

In allen Dingen werde ich dich spüren und für dich weiteratmen.

In kurzen Zitaten mit weissen Dingen als Titel und gegliedert in 3 Abschnitte «Ich», «Sie» und «Alles weiss» zeigt mir Han Kang ihre ergreifenden Reflexionen über Menschsein, Geworfenheit und Vergänglichkeit. Ich bin dankbar, durch den Nobelpreis auf diese wunderbare Autorin aufmerksam geworden zu sein.
Wirklich grossartig und lesenswert!

Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Seit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ gehört Han Kang zu Koreas wichtigsten literarischen Stimmen. Während eines Aufenthalts in einer europäischen Stadt, konfrontiert mit der Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen ihrer Mutter starb, entstand „Weiß“, ein Buch, reduziert bis auf das, was sich nicht mehr wegdenken lässt. 

Die Frau, von der erzählt wird, ist in der Fremde, an einem Ort, an dem während der Hälfte des Jahres Kälte herrscht; der Nebel, die Wolken, der Schnee. In einer Stadt, in der sie die Sprache nicht versteht, in der kein Schild zu entziffern ist, in der sie sich fremd und verunsichert fühlt, tauchen im Weiss Bilder auf, die sie in die Erinnerungen zurückreissen.


An die Mutter, die noch ganz jung, ganz allein, weit weg und ohne Zugang zu medizinischer Hilfe lange vor dem Geburtstermin ein Mädchen zur Welt bringt, unvorbereitet und in stiller Verzweiflung. Aber nicht einmal zwei Stunden lang dauert das kurze Leben des Mädchens. Es stirbt. Und nachdem Stunden später der Vater nach Hause kommt, hüllt er dieses in weisse Wickeltücher und beerdigt es auf einem nahen Hügel. Eine Tragödie, von der sich die Mutter nie ganz erholt, die immer wieder im Konjunktiv aufflackert. Eine Tragödie, die auch die Erzählende begleitet, denn trotz ihres kurzen Lebens bleibt das namenlose Mädchen ihre Schwester. Noch mehr, denn es hätte sie selbst nicht gegeben, hätte die Erstgeborene weiter gelebt.

Jahrzehnte später in den kalten Wintermonaten in einer fernen Stadt, allein gelassen mit sich selbst und mit Bildern, die sonst verborgen bleiben, tauchen Erinnerungen wieder auf. Erinnerungen gekoppelt mit der Farbe Weiss. Während die Erzählerin als erstes eine Liste erstellt mit Dingen, die sie mit Weiss verbindet, tauchen weisse Fetzen aus dem Vergessen auf. Aus der Liste werden die Überschriften zu den kurzen Kapiteln, die sich wie Meditationen, Betrachtungen lesen; Wickeltuch, Babyhemdchen, Mondförmiger Reiskuchen, Nebel, Weisse Stadt, Weisse Kerze…

„Hättest du doch nicht aufgehört zu atmen.“

Die Texte reflektieren nicht nur Erinnerung, sie beschäftigen sich auch mit dem Warum, warum sich ausgerechnet in dieser fremden Stadt, diesem fremden Land längst Vergessenes an die Oberfläche drängt. Woher dieses Bedürfnis, dieses Sehnen nach Reinheit und Sauberem, Makellosigkeit und Keuschheit.

Von den Erzählungen der Mutter weiss die Erzählende, wie sehr die Mutter flehte: Stirb nicht, bitte stirb nicht. Mit dem Schreiben, dem Erzählen wandelt sich dieses Flehen an die Erinnerung: Stirb nicht, bitte stirb nicht. Selbst wenn die Augen des kleinen Mädchens nur kurz schauten, der Atem wieder versiegte und die Haut des Mädchens erkaltete – die Erinnerung darf es nicht. Stirb nicht, bitte stirb nicht, wird zum Amulett, zuerst für die Mutter, dann für die zweite Tochter.

„Weiß“ ist ein ganz zartes Buch, ein Hauch im kalten Winter. Der Beweis dafür das wir leben, nicht bloss existieren. 

Wer das Buch liest, scheut sich, es so einfach in ein Regal zu schieben.

Han Kang wurde 1970 in Gwangju, Südkorea, geboren und ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Für »Die Vegetarierin« erhielt sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize, »Menschenwerk« erhielt den renommierten italienischen Malaparte-Preis. »Weiß« war ebenfalls für den Booker Prize nominiert. 2024 erhielt Han Kang den Nobelpreis für Literatur. Sie lebt in Seoul. 

Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin. Für ihre Übersetzungen wurde sie 2024 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Beitragsbild © Yeseul Jeon