Er wacht auf. Gleich mehrfach. Das Haus steht im Wasser. Es regnet. Die Stadt, in der er seit Geburt lebt, ist von allen verlassen. Nur ihn scheint man vergessen zu haben. Simon Strauss Novelle „zu zweit“ ist ein Sprach- und Bildkunstwerk von betörender Schönheit.
Er verkauft Teppiche und Stoffe, führt das Geschäft seiner Eltern weiter, das aber seit dem Abtauchen seiner Mutter nur mehr schleppend läuft. Simon Strauss nennt seinen Protagonisten nur „Verkäufer“, weil ein Name nichts zur Sache tut. Weil „Verkaufen“ das ist, was den jungen Mann ausmacht, der sich lieber im Kabuff hinter seinem Laden vor dem Leben draussen auf der Strasse versteckt. Nicht dass er sich zurückgezogen hätte. Er war schon immer so. Als Kind oder als Schüler. Erst recht als sich nach der Pflichtschulzeit sein einziger „Freund“ in ein Studium absetzte und er mit aller Selbstverständlichkeit in das Geschäft seiner Eltern hineinwuchs. Erst recht, als sich seine Mutter völlig überraschend aus der Familie absetzte, obwohl die Zweckgemeinschaft zwischen Mutter und Vater schon immer etwas Unsicheres hatte. Schon als der Vater das Geschäft trotzig weiterführte, blieb die Kundschaft aus, weil man das Geschäft wegen der freundlichen Bedienung der Mutter betrat.
Seit dem Tod seines Vaters wohnt er nicht mehr in der Wohnung über dem Geschäft, sondern in einer kleinen Mansarde in der gleichen Stadt. Still für sich, reduziert auf sein kleines Leben zwischen Wohnung und Geschäft.
Bis zu jenem Morgen, an dem er alles verändert kaum wiederfindet. Alles im Wasser versinkt, noch immer Regen auf die Stadt niedergeht, aber er der einzige scheint, den man zurückgelassen hatte. Nicht mutwillig. Aber weil er es in seiner Sehnsucht nach Stille und Abgeschiedenheit schlicht versäumt hatte, wie alle anderen Bewohner der Stadt das Weite zu suchen. Der stille Teppichhändler, der Verkäufer macht sich auf den Weg durch das Haus, die Stadt, zum Fluss, durchs leere Land.
Der Verkäufer, dem vor der Flut nichts wichtiger war als die Gegenstände, die Ordnung in seinem Laden, hat sich längst angewöhnt, dass ihm die Dinge wichtiger sind als die Menschen, denen sie dienen sollten. Trägt man den Dingen Sorge, bleiben sie. Ganz anders als die Menschen. Auf sie ist kein Verlass. Das zeigten ihm eine Mutter, die mit einem Mal verschwand und ein Vater, der sich nach dem Verschwinden seiner Gattin immer mehr in sich zurückzog, hinter die Nähmaschine zu seinen Kreuzworträtseln. Bis auf die junge Frau, die ihn als letzte all der Vertreterinnen von Teppichen und Stoffen noch besuchte, die für einen kurzen Moment, ein paar Augenblicke lang etwas in den Laden zurückbrachte, was längst abgebrochen schien. Aber weil dem jungen Verkäufer wie stets in solchen Situationen die Worte fehlten, war die Vertreterin wie ein kurzes Auflodern eines Feuers, das er längst erloschen glaubte.
Der Teppichmann macht sich auf den Weg durch eine verlassene Welt. Aber weil er Zeit seines Lebens den Dingen mehr zugewandt war als den Menschen oder auch den Tieren, ist es ein Gang durch die Hinterlassenschaften. Er stört sich nicht an seiner Einsamkeit, mehr an seiner Verlassenheit. Die junge Frau in seinem Laden zeigte etwas, von dem ihn nicht nur sein Leben beschnitten hatte, mehr noch das, was über die Stadt, das Land hereingebrochen war und ihn zurückgelassen hatte.
Irgendwann steht er auf einer Brücke und lässt sich fallen. Aber statt ins Wasser zu fallen, landet er im Kleiderhaufen eines Flosses. Auf einem Floss mit einer jungen Frau. Einer künstlichen Insel mit eben jener Frau, die er verloren glaubte.
„zu zweit“ gibt sich dystopisch, endzeitlich, ist aber keine Dystopie. Die verlassene Landschaft in Simon Strauss Novelle ist die Kulisse eines Aufbruchs. Der Teppichmann, den seine Geschichte lehrte, sich nur noch auf seine Dinge zu verlassen, spürt mit einem Mal die Sehnsucht eines Gegenübers. „zu zweit“ ist eine Reise mit ungewissem Ziel. Spektakulär an der Novelle ist die Sprache, mit der Simon Strauss eben diese Dinge und ihre Arrangement zeichnet. Bilder mit einer ungeheuren Kraft. Eine Sprache, die einem während der Lektüre trunken macht. „zu zweit“ spielt mit den Zwischenräumen, nicht zuletzt mit den archetypischen Bildern von Träumen, der Welt des Unterbewussten. „zu zweit“ ist ein Tripp in eine beinahe entmenschte Welt.
Interview
«Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden.»
„zu zweit“ will keine Dystopie sein, keine postapokalyptische Novelle. Auch kein Flutroman, kein Klimaroman. Es ist die Reise eines jungen Mannes aus seiner selbstgewählten Isolation. Ein Aufbruch mit offenem Ziel. Auch kein Überlebensabenteuer, denn der junge Mann scheint in seiner Situation keine Angst zu haben. Ihr Buch schrammt an sämtlichen Einordnungsversuchen vorbei. War das von Beginn weg Absicht, Programm?
Nein. Ich hatte zugegebenermassen kein Programm und auch fast keine Absicht. Ausser, dass ich möglichst etwas schreibe, das meinen inneren Bildern entspricht und sich nicht an der äusseren Aktualität orientiert. Entstanden ist das Buch aus Träumen, aus Bildfetzen und Phantasmen, die mich in der Nacht umgetrieben haben. «Abbruch mit offenem Ziel“ – das finde ich eine sehr gute Beschreibung, genau darum geht es, um den Moment, in dem auf einmal alles anders ist und die alte Ordnung mit dem neuen Augenblick ringt. Wie will man so etwas einordnen? Ich jedenfalls habe darauf bestanden, dass „zu zweit“ kein Roman ist. Dieses Mal – im Gegensatz zu „Sieben Nächte“ und „Römische Tage“ – aber eben auch kein autofiktionaler Text. Daher, als einziger Ordnungsversuch, die Gattungsbezeichnung: „Novelle“.
Jene schrulligen, eigenbrötlerischen Abgewandten haben in der Literatur eine lange Tradition. Spricht da vielleicht sogar ein kleiner Funke Sehnsucht des Schriftstellers, sich von der Welt „da draussen“ abzuwenden? Schon der Akt des Schreibens ist doch die Umkehrung aller Auseinandersetzung mit der Welt. Man blickt in eine Innenwelt, in sich hinein, ein Abbild aller Eindrücke der Realität?
In der Tat hat das Schreiben etwas zutiefst eigensinniges an sich. Also im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um die Schärfung der Wahrnehmung, um das genaue Gehör für den Ton, das Abstreifen aller möglichen Schutz- und Sympathieschilder. Alle Figuren, die ein Autor erschafft, haben etwas mit ihm selbst zu tun, denke ich. Und so steckt auch in dem Abgewandten etwas von mir als Mensch. Vielleicht mehr Sehnsucht als Tatsache, denn ich selbst bin ja mittendrin, umgeben von vielen, im Gespräch mit so manchem. Aber als Autor weiss ich, dass diese Welt des Aneinandervorbeiredens und Durchschauens nichts Bleibendes hat, dass all die Erfahrungen, die wir so machen, verpuffen wie Seifenblasen. Deshalb ist der Einzelgänger das ehrlichere Ego des Autors. In ihm kann er finden, was ihm selbst dem Augenschein nach fehlt: Die Einsamkeit. In diesem Sinne geht es in der Tat um Innenwelt, um das Gegenbild, die Umkehrung.
Der Teppichmann entwickelt nach der ersten Begegnung mit der jungen Vertreterin eine fast obsessive Sehnsucht nach einer weiteren Begegnung mit jener Frau. Und ausgerechnet ihr begegnet er auf seiner „Reise“ durch eine verlassene Welt. Bei jedem anderen Buch wäre ein solcher Zufall unglaubwürdig. Aber weil es in Ihrer Novelle nicht um einen Bericht mit maximaler Glaubwürdigkeit geht, sondern um Bilder, Dinge, die Geschichten erzählen, ist ein solcher Zufall erstaunlich nebensächlich. War die Absicht Ihres Schreibens am Anfang die selbe wie jene mitten im Schreibprozess?
Es war ein sehr langwieriger und durchaus auch schmerzhafter Schreibprozess. Mein Lektor, Tom Müller, vom Tropen-Verlag hat mich auf dieser Reise als strenger Kapitän begleitet. Es gibt bestimmt fünf verschiedene Fassungen von „zu zweit“. Ich habe das Gefühl, dass sich der Text immer mehr verdichtet hat, immer klarer wurde, worauf die Konzentration liegt – eben genau auf dem, was Sie beschreiben: Den Bildern, den Geschichten der Dinge, dem Wunder der Begegnung. Ich glaube, für diesen Text spielt das Kriterium der Logik oder realistischen Nachvollziehbarkeit keine Rolle – es geht ihm ja genau darum, auf das Unwahrscheinliche, Staunenswerte, Zufällige von Begegnungen hinzuweisen. Wieviele Menschen umgeben uns räumlich jeden Tag und wir lernen nie eine oder einen von ihnen kennen. Das ist doch das eigentlich Ungeheuerliche unserer Existenz: Nicht dass wir sterben, sondern dass wir leben und so viel an uns vorbeigeht, ohne dass wir es bemerken.
Der Protagonist hatte sich in seinem Leben angewöhnt, die Dinge kurz um Erlaubnis zu fragen, bevor er sie benutzt. Eine Angewohnheit, die unseren Umgang mit Dingen durchaus verändern könnte. Dass uns alles ungefragt zu dienen hat, könnte auch der Ursprung dessen sein, dass wir den Bezug zum Material, das wir brauchen, längst verloren haben. Steckt also doch etwas Anklagendes in Ihrem Buch?
Nein, nichts Anklagendes. Vielleicht eher eine Erinnerung daran, wieviel wir von dem, was uns angeblich Lebloses umgibt, profitieren. Die Vorstellung, dass all die Gegenstände und Naturstrukturen, mit denen wir leben nichts davon mitbekommen, was wir sind, denken, glauben und fühlen, ist doch absurd. Es muss sich in ihnen etwas sammeln und speichern von unserem Leben. Das tragen sie weiter. Und erzählen später einmal von uns. Ich stelle mir vor, dass die Dinge viel über uns reden. Nicht schlecht. Aber doch hin und wieder leicht verwundert – woran wir alles denken. Nur nicht an sie. Deshalb vielleicht die Erinnerung: „no ideas but in things“ (William Carlos Williams)
Katastrophenszenarien haben sowohl in der Literatur wie im Film eine lange Tradition. Ihr Protagonist scheint die eigentliche Katastrophe gar nicht so sehr wahrzunehmen. Es scheint eine menschliche Überlebenshilfe zu sein, Katastrophen relativieren zu können. Anders wäre es nicht erklärbar, dass wir unseren Alltag perfekt dem Schrecken der Gegenwart anpassen. Er sieht die Dinge, nicht das Woher und Warum. Selbst die Frage nach dem Wohin ist inexistent. Ist „zu zweit“ ein Spiegel der Zeit?
So wie Sie es beschreiben hat es tatsächlich etwas von einem Spiegel. Nicht das Woher und Warum und auch nicht das Wohin. Hauptsache das Jetzt. Das Hier. Das eigene Bild. Ich habe „zu zweit“ nicht als Spiegel unserer Zeit konzipiert, aber natürlich fliesst in jedes Schreiben das tägliche Sein und Fühlen mit ein. Und ich glaube eben, dass wir am Rand einer grossen Veränderung leben. Ich bin kein Adventist – und doch ahne ich, dass sich unser Lebenswandel, unsere Ordnung und unsere Vorstellungen noch einmal grundlegend ändern werden. Wie weit entfernt schien uns ein Krieg mit Panzern. Wie fiktional das Wegschwimmen ganzer Dörfer. Wie unvorstellbar eine Pandemie, die Milliarden Menschen bedroht. Ich glaube, wir sollten uns darauf einstellen, dass sich die Dinge ändern werden. Mit meinem Schreiben an „zu zweit» habe ich versucht, mir das selbst vorzuführen und einzuschärfen.
Simon Strauss, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe »Arbeit an Europa«. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Frankfurt und Berlin, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm «Sieben Nächte» (2017) und «Römische Tage» (2019).
Beitrgsbilder © Maximilian Goedecke photography