Sarah Moss «Zwischen den Meeren», mare

Im 19. Jahrhundert war das Britische Empire, zumindest in den Augen der englischen Oberschicht, das Mass aller Dinge. Die Kolonialmacht agierte mit ungebrochener Selbstverständlichkeit. Vielleicht nicht unähnlich dem Verhalten manch einer Grossmacht oder einem Grossmächtigen heute. Sarah Moss offenbart mit ihrem neuen Roman, dass sich selbst hinter Glanz und Glorie Schimmel und Moder verstecken.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts reist der Ingenieur Tom Cavendish für sechs Monate nach Japan, um den Japanern dort beim Bau von Leuchttürmen zu helfen. Er lässt seine frisch Angetraute Ally zurück, denn diese will als eben fertig ausgebildete Ärztin ihre Fähigkeiten im maroden britischen Gesundheitssystem unter Beweis stellen. Zwei moderne Menschen, ein modernes Paar. In einer Zeit, in der studierte Frauen die absolute Ausnahme waren und selbst von der «aufgeklärten» Oberschicht nicht ernst genommen wurden. In einer Zeit, als Briten mit dem elitären Gefühl der Übermacht ein fremdes Land bereisten, die wenigsten ihr Tun in Frage stellten und man es als selbstverständlich und gottgewollt betrachtete, dass eine Oberschicht alle Privilegien genoss, während eine Unterschicht in tiefster Armut und eigentlicher Agonie dämmerte. Klar, Sarah Moss erzählt auch eine Liebesgeschichte. Aber sie will mehr als das.

Während Tom es in den Monaten in Japan nicht schafft, den Einheimischen wirklich nahe zu kommen, versinkt seine Frau in ihrer Arbeit in einer Irrenanstalt. Während Tom ahnt, dass er in einem Land weilt, in dem Kultur dem Menschen dient, zerbricht seine Frau beinahe an den Folgen von Arroganz und Ignoranz. Während sich Tom wie in Watte gepackt tragen lässt, nie wirklich in der Fremde ankommt, feststellen muss, dass sich Japaner und Engländer nicht einmal in derselben Sprache sprechend verstehen würden, flieht seine Frau vor ihren Träumen, dem Alp um ihre viel zu früh verstorbene Schwester. Flieht zurück zu ihrer Mutter, die krank vor Eifer ausgerechnet Ally in den Wahnsinn zu treiben droht. Ally, eigentlich eine selbstbewusste Frau, mutiert, sobald sie über die Schwelle ihres Elternhauses tritt, zum kleinen Mädchen. Psychisch geprügelt von einer gläubigen, in ihrer heiligen, sozialen Mission unerschütterlichen Mutter. Und trotzdem ist die Geschichte die Geschichte einer Liebe, auch wenn ein Ozean dazwischen liegt.

War England damals ein zivilisiertes Land? Dieses Land, in dem Massen ohne Schulbildung waren, kein Sozialsystem funktionierte, ein Land, in dem Massen von der Wohltätigkeit der Herrschenden angewiesen waren, auf den Einsatz tausender Frauen, die sich argwöhnisch und kritisch gegenseitig beäugten, wie unermüdlich ihr Einsatz war. Eine Frau wie Ally, eine Frau, die studiert, ihr Examen glänzend besteht, um künftig nicht nur als Doktor angesprochen zu werden, sondern es auch zu tun, war eine Provokation. Erst recht, weil sie ihre Arbeit als Erwerbsarbeit gesehen haben wollte.

Sarah Moss erzählt mit viel psychologischem Einfühlungsvermögen von einer Zeit, in der die Psychologie noch in den Kinderstuben steckte und man vornehmlich Frauen erstaunlich schnell für verrückt erklären konnte, um sie für Jahre hinter feuchten Mauern in Anstalten ensperren zu können. Sarah Moss erzählt von den beiden Gegensätzen England und Japan, erzählt aus beiden Perspektiven, geschickt verwoben.

Sarah Moss, 1975 geboren in Schottland, studierte und promovierte an der Oxford University. Heute unterrichtet sie an der University of Warwick. Sie ist die Autorin der Romane «Schlaflos» (2013) und «Wo Licht ist» (2015) sowie des erzählenden Sachbuchs «Sommerhelle Nächte: Unser Jahr in Island» (2014).

Webseite der Autorin

Übersetzerin Nicole Seifert, geboren 1972, studierte nach einer Ausbildung im S. Fischer Verlag Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und Amerikanistik in Berlin. Seit ihrer Promotion lebt sie als freie Lektorin und Übersetzerin in Hamburg. Im mareverlag übersetzte sie «Was uns bleibt» (2012) von Katie Arnold-Ratliff.

Bild: Sandra Kottonau