Sara Gmuer «Achtzehnter Stock», hanserblau

Eine alleinerziehende Mutter mit ihrem kranken Kind in einem Hochhaus in einer Berliner Platte. Eine Frau vor dem Absturz ins Nichts. «Achtzehnter Stock» ist ein hartes Stück Gegenwart, erzählt von einem gehetzten Leben, mit dem niemand tauschen will, das man tunlichst ausblendet. Wäre dieser Roman Musik, wäre sie laut, schmerzhaft verzerrter Sound.

Wanda wohnt im achtzehnten Stock eines Hochhauses, ein schimmliges Loch, von dem ihr Onkel, der ihr die Wohnung vermietet, behauptet, es sei ein Juwel. Aber das Hochhaus ist ein Ort der Gestrandeten, der Gescheiterten, der Zurückgelassenen, der Resignierten. Für Wanda kein Zuhause, kein Ort, an dem sie sich wohl fühlt. Kein Zuhause, das Wanda sich für ihre fünfjährige Tochter Karlie wünscht. Und doch alles, was sie kriegen kann. „Kriegen“ ist dabei mehr als wörtlich zu verstehen. Für Wanda ist Leben ein Kampf, ein Krieg. Zum einen lebt Wanda mit dem Selbstverständnis, eine Schauspielerin zu sein, auch wenn es schon Monate her ist, seit ihrem letzten Werbefilm. Zum andern wird in der Scheinwelt des Film der Reichtum, dieses Gefühl, man müsse nur wollen, dann erreiche man seine Ziele schon, mit aller Dekadenz zelebriert. Da ist kein Platz für eine Frau mit Kind, für eine alleinerziehnde Mutter, für jemanden wie Wanda, der weder auf Familie noch ein intaktes Betreuungssystem zählen kann. Zum andern die immer grösser werdende finanzielle Not, dieses Gefühl, immer tiefer in ein Loch zu fallen, aus dem es keine Chance mehr gibt, aus eigener Kraft an den glatten Wänden wieder hochzukommen.

Ich habe genug gesehen. Wir müssen weg.

Sara Gmür «Achtzehnter Stock», hanserblau, 2025, 224 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-446-28278-0

Und dann wird auch noch Karlie krank, liegt apathisch auf dem durchgesessenen Sofa und tropft aus den Ohren. Ausgerechnet jetzt, wo ein Angebot winkt, ein Casting, das Wanda aus der Scheisse hieven soll. Da ist zwar ihre Nachbarin mit ihrer Tochter Aylin, die sie immer wieder mal fragt, ob sie auf Karlie aufpassen kann. Aber Aylins Mama spiegelt ihr ziemlich unverblümt, was sie von der Welt hält, in die Wanda um jeden Preis zurückkehren will. Die Situation spitzt sich so sehr zu, dass Wanda mit Karlie von Praxis zu Praxis rennt und sich die Katastrophe zu einem Drama auszuweiten beginnt. Ein Drama, für das man am Set, an dem man ihr tatsächlich eine Rolle anbietet, keinen Platz hat. Alleinerziehende Schauspielerinnen mit kranken Kindern ohne Betreuungsnetz haben keinen Platz in einem Berufsfeld, das weder klare Arbeitszeiten noch Ausfälle, familiäre Notfälle tolerieren will.

Niemand ist frei. Es entscheiden immer die anderen, was man wert ist.

„Achtzehnter Stock“ ist ein schonungsloser Roman. Der Höllentripp einer Frau, einer Mutter, die zwischen Welten zerrissen wird, die in beiden Welten abzustürzen droht, über deren Leben sich ein Sturm zusammenbraut, aus dem es unmöglich scheint zu fliehen, erst recht mit einem kranken Kind. Es ist ein Roman, der die Situation vieler Frauen erzählt, die auf sich selbst gestellt in den Zwängen der Gesellschaft, im Spagat zwischen Erziehungs- und Erwerbsarbeit bis zur Selbstaufgabe abrackern. Von fehlenden Vätern, von Männern, die nur bis zur eigenen Nasenspitze denken und handeln und einer Gesellschaft, die zwar Familie auf ein Podest setzt, aber nicht bereit ist, Berufs-, Betreuungs- und Gesundheitssystem so zu ordnen, dass alleinerziehende Mütter nicht durch die Maschen fallen.

Man vererbt nicht nur Geld, man vererbt auch Armut.

Literatur ist ein Spiegel der Gesellschaft. Dieser Roman ganz bestimmt. Und der Roman überzeugt auch sprachlich. Was Sara Gmuer in ihrer Geschichte erzählt, spiegelt sich in der Sprache, im rauhen Ton, in den Beschreibungen der Szenerien. Das Hochhaus in einer Berliner Platte ist nicht nur ein Funkloch im Netz, auch ein Funkloch im Bewusstsein der Allgemeinheit, zumindest derer, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sara Gmuer hat einen aussergewöhnlich berührenden Roman geschrieben, kein Mutmacher, aber ein fühlbar schmerzender Stich in die Gegenwart, der der Traum wichtiger ist als die Realität.

© Sara Gmuer

Interview

Ein Roman auf der Schattenseite vieler Lebensträume. Und dass dabei ausgerechnet ein Kind zur scheinbaren Ursache aller Not wird, schmerzt. Wanda, ihre Protagonistin, ist in ihrer Zerrissenheit gefangen. Ich behaupte nicht, dass Männer, Väter ebenso davon betroffen sind, aber was fehlt an Struktur und Gesellschaft, dass Muttersein nicht zur Armutsfalle wird? 
Es fehlt an finanzieller Absicherung, flexibler Betreuung und gesellschaftlicher Akzeptanz für Frauen, die mehr wollen als „nur“  funktionieren. Es bräuchte einen anderen Blick auf Mutterschaft. Ein System, das nicht erwartet, dass Mütter ihre Träume kleinhalten. 
Wanda will Mutter sein und ihre Karriere verfolgen, aber ihr Umfeld hält das für naiv oder egoistisch. Das Problem sind nicht die Kinder. Es sind die Strukturen drumherum. 

Wanda will raus, raus aus der versifften Wohnung im achtzehnten Stock, raus aus dem Quartier der Verlierer und Gestrandeten, obwohl genau dort das ist, was nicht an Status und Geld gebunden ist. Ist Wanda ein Opfer ihres Lebenstraums? Warum hat man es geschafft, wenn Geld keine Rolle mehr spielt? 
Wanda ist kein Opfer ihres Lebenstraums – sie kämpft für ihn, weil er ihre einzige Chance ist, aus der Platte rauszukommen. Erfolg bedeutet für sie nicht nur Anerkennung, sondern vor allem finanzielle Sicherheit. Es geschafft zu haben, heisst für Wanda, sich nicht mehr jeden Tag fragen zu müssen, ob sie die Miete bezahlen kann. Geld ist für sie kein Luxus, sondern die Voraussetzung, um selbst zu entscheiden, wie sie leben will. 

© Sara Gmuer

Die Welten zwischen Plattenbau und Filmglamour könnten grösser nicht sein. Sie kennen beide Seiten. In der Welt des Films scheint es für die Unberechenbarkeit eines Familienlebens, des Mutterseins keinen Platz zu haben. Weil sich Wanda in ihrer Not für ihr Kind und gegen Termine entscheidet, ist die Rache an ihr vernichtend. Spiegelt das die Welt des Films? 
Es gibt viele Berufe, in denen für die Unberechenbarkeit des Mutterseins wenig Platz ist. Die Filmbranche ist da keine Ausnahme. In Wandas Fall kann ich die Produktion sogar nachvollziehen. Drehs sind eng getaktet, es hängen viele Menschen und viel Geld daran. Wenn eine Newcomerin plötzlich nicht ans Handy geht, würde ich sie wahrscheinlich auch ersetzen. Gleichzeitig zeigt das genau das Problem: Die Strukturen sind nicht darauf ausgelegt, dass jemand auch nur kurz ausfallen könnte, schon gar nicht eine junge Mutter ohne Status. In Wandas Welt ist kein Spielraum für Fehler oder persönliche Krisen. Wer nicht liefert, ist raus. 

Wanda bekommt dann doch eine Rolle. Aber man macht aus ihr eine Leerstelle. Sie erscheint weder im Abspann der aufgeführten Mitwirkenden, man lässt sie draussen bei der Promotion des Films. Um jene Rolle entsteht in der Folge ein Geheimnis und daraus so etwas wie ein Hype. Wanda will eine Rolle spielen. Ist dieses Wollen mehrdeutig zu verstehen? 
Ja, Wandas Wollen ist definitiv mehrdeutig. Sie will eine Rolle spielen – im Film, aber auch im Leben. Es geht um mehr als nur die Schauspielerei. Sie will sichtbar sein, Teil von etwas Grösserem. Sie will ernst genommen werden. 

„Achtzehnter Stock“ ist ein Roman über all jene Mütter, die es irgendwie alleine schaffen müssen. Ein Roman über den drohenden Verlust von Lebensträumen. Ich unterrichte 13jährige Kinder. Wenn ich sie frage, was dereinst ihr Platz im Leben sein könnte, staune ich nicht schlecht. Von Bescheidenheit keine Spur. Interpretieren wir unser Leben, unser Dasein nicht allzu sehr als Wettkampf, als Streit um jenen kleinen Platz an der Spitze der Pyramide?
Ich glaube, die meisten verlieren ihre Lebensträume erst später, mit 13 sind grosse Träume noch ganz normal und ich finde, man sollte sie sich bewahren. 
Wanda kämpft nicht um die Spitze der Pyramide, sie kämpft darum, unabhängig zu sein und ihr Leben so zu leben, wie sie es will. Für sie ist Erfolg kein Statussymbol, sondern das Ticket raus aus der Platte. 

© Sara Gmuer

Sara Gmuer, 1980 in Locarno geboren, zog nach ihrem Abschluss an der Filmschauspielschule Zürich nach Deutschland. Sie stand für Dominik Graf und Die Ärzte vor der Kamera und als Rapperin auf der Bühne. Sie schrieb Songs, textete für Agenturen und fand dabei ihre ganz eigene Stimme. 2020 erschien bei orange-press ihr Debüt «Karizma», Lovestory, Hiphop-Video und Roadmovie in den Strassen von Berlin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Berlin.

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Beitragsbild © Urban Ruths