Ava erwachte an diesem Morgen unerwartet mürrisch.
Draussen warteten Dunkelheit und Kälte, sie verkroch sich nochmals unter der warmen Decke. Nur noch fünf Minuten, dachte sie und döste nochmals ein.
Sie träumte vom Esel im Stall, den man in diesen Tagen überall sah, sei es auf Karten oder in den Gassen mitsamt dem Nikolaus. Daneben stand eine Krippe mit dem Jesuskind. Doch wer war nun daneben?
Die Kirche, die das Kind nicht wachsen liess oder der Metzger, der Schweinsfilets im Teig im Akkord zu verkaufen wusste?
Egal, dachte der Esel Kim, ich bitte das Jesuskind um Flügel, dann kann ich mich davonmachen. Es hat zu viele Leute hier, zu viel Neonlicht, zu viel Lärm.
Iah, rief er laut und schon wuchsen ihm schmale Knorpel, überzogen mit Faszien und Muskeln aus der Seite. Bestimmt lassen sie sich als Flügel benutzen, dachte Kim, scharte mit den Hufen im feuchten Heu und schaute zum Kind.
Lass mich ziehen, bat der Esel.
Das Kind nahm seine Hand zum Mund und knabberte daran. Es schien dabei zu nicken, für niemanden sichtbar. Doch diesen Zuspruch liess sich Kim nicht nehmen, er versuchte ein wenig die seitlichen Fächer zu bewegen und schon strampelte er sich ein paar Zentimeter vom Boden weg. Dann plumpste er wieder auf den Boden.
Ava schrak auf und schaute auf die Uhr.
Nun war sie wirklich spät dran, sie stand eilig auf, kämmte ihre langen Haare, griff kurz nach dem Pinsel, um den Lippen etwas Rot aufzulegen und schob wenig später das Fahrrad aus dem Velokeller. Sie hatte heute Sonntagsdienst in der Apotheke. Sie hatte Pharmazeutik studiert und die Stelle, die sie kurz nach Abschluss an der ETH gefunden hatte, passte ihr. Sie waren ein kleines Team, alle jung und … dynamisch, bei diesem Wort musste Ava grinsen. Sie stoppte bei der Bäckerei, wo man von draussen etwas bestellen konnte, bezahlte ihren Kaffee und den Laugengipfel und biss mit Genuss in das frische Gebäck. Wenige Gebäude weiter stellte sie das Fahrrad in das Parkfeld und schloss das geliebte Vehikel ab.
In der Apotheke schlüpfte sie in den weissen Kittel und schon stand sie hinter der Theke.
Sie mochte die Vielzahl der Fragen, mit denen die Menschen an sie herantraten.
Ein älterer Mann fragte nach einer Salbe, er habe sich den Fuss verstaucht.
Reiben Sie diese ein, sagte Ava, sie ist schmerzstillend und abschwellend – und lagern Sie den Fuss hoch, schob sie nach. Der Mann bedankte sich, bezahlte und ging humpelnd davon.
Viele Leute husteten, als sie reinkamen; sie verkaufte Erkältungstee und wenn es etwas Stärkeres sein sollte, Neocitran.
Eine junge Frau hatte ein quengelndes Kind bei sich und verlangte nach Schmerztabletten.
Kopfschmerzen, fragte Ava mitfühlend nach und die Frau nickte.
Fast gleichzeitig war ein Junge eingetreten, er wartete geduldig und hielt ihr dann ein Rezept hin, für meine Mama, sagte er und schaute sie fragend an.
So ging es den ganzen Tag weiter. Ava verkaufte Medikamente, griff nach Schachteln und Fläschchen und kam kaum zu einer Pause.
Draussen spielte die Heilsarmee Weihnachtslieder, mit jeder Türöffnung drangen Fetzen bekannter Melodien hinein. Ava war versucht, mitzusingen, so allmählich wurde sie müde und nostalgisch. Und hörte den Magen knurren.
Kurz vor Ladenschluss trat ein Mann mit einem smarten Wuschelkopf an die Theke. Er trug ein schmales Instrument an der Seite und einen grauen Flanellmantel. Ein Knopf fehlte, vielleicht waren es zwei. In diesem Moment kam Ava der Esel in den Sinn, sie hatte keine Ahnung weshalb.
Spontan fragte sie den durchfroren wirkenden Mann, als sie ihm die Vitamin C Sprudeltabletten hinübergereicht hatte, ob er ebenso hungrig sei wie sie. In der Nähe sei ein günstiges Lokal, ich lade dich ein, sagte sie und war ebenso überrascht wie der schlaksige Mensch ihr gegenüber.
Wenig später sassen sie sich vis à vis und schauten sich etwas verlegen an.
Dass sich der Mann als Kim vorstellte, verwunderte Ava kaum mehr, nur ihre Augenbrauen schnellten kurz hoch.
Ava sah von ihrem Sitzplatz auf die Gasse hinaus zu den Juddbrunnen, wo die Krippenfiguren aus Holz aufgestellt worden waren. Sie lächelte dem Jesuskind in der Holzkrippe zu, das immer noch an seiner Faust knabberte. Gut gemacht, Kleines, du bist gar nicht so daneben, zwinkerte sie ihm zu.

Ruth Loosli, geboren 1959 im Seeland, lebt in Winterthur. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, fünf Lyrikbände, ein Roman («Mojas Stimmen»). Schriftbilder entstehen, eines fürs Plakat von «Zürich liest» 2023. Ein erstes Bilderbuch erscheint 2024, ein zweites im Frühjahr 2026. In der Galerie Weiertal werden 2026 Schriftbilder zu sehen sein.
Die Illustration von Lea Le ist ein Geschenk von literaturblatt.ch und der Künstlerin als Preis für einen der 7 ausgewählten Texte.

