Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir», Der gesunde Menschenversand

Mag sein, dass Rolf Hermanns neuer Gedichtband «In der Nahaufnahme verwildern wir» als Naturlyrik katalogisiert wird. Was sie mit Bestimmtheit ist, denn die Natur ist Protagonistin, Objekt, Kulisse und Inhalt zugleich. Aber gerecht wird man dem Buch damit bei weitem nicht. Die Lyrik des ewigen Wallisers schlüpft förmlich in die Natur hinein, selbst dort, wo sie durch menschliche Eingriffe kontaminiert ist.

Seine Gedicht sind lange und kurze Kamerafahrten, «Nahaufnahmen», nicht nur an der Natur vorbei, sondern durch sie hindurch. Seine Art des Sehens erinnert mich an den Dokumentarfilm «Mikrokosmos – Das Volk der Gräser» von Claude Nuridsany und Marie Pérennou, der 1996 Furore machte und den Blick auf die Natur in eine ganz neue, überraschende Dimension brachte. Kamerafahrten und Slow Motion, als wäre man ein untrennbarer Teil von ihr. Nicht nur das Sehen auf die Natur, ebenso durch sie hindurch, aus ihr heraus.

Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir», Der gesunde Menschenversand, 2021, 176 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-03853-116-6

«In der Nahaufnahme verwildern wir» ist mehr als ein Titel, er ist Programm. Eine Aufforderung, Ermunterung an ein Wesen, das sich in den vergangenen Jahrhunderten immer mehr von dem entfernte, was wir heute Natur nennen und als unser Gegenüber empfinden, nicht mehr zu uns selber zählen. Hier der Mensch, dort die Natur. Rolf Hermanns Gedichte ziehen mich zurück in die Natur, an die trockenen Walliser Hänge, den Pfynwald an den Ufern der Rhone, die bewaldeten Bergflanken. Naturwesen sind wir längst keine mehr. Eine Rückverwilderung täte gut, zurück in den Dreck, in die Kälte, die Feuchte, die Hitze, die Unmittelbarkeit, zu jener echten Nähe, in der man nicht nur besucht, dick eingemantelt und beschuht der Natur als netter Kulisse begegnet, der man erzwungene Notwendigkeit zuspricht.

Rolf Hermann liess sich von den Gedichtzyklen Rainer Maria Rilkes beeinflussen, die dieser im Wallis in seinen letzten Lebens- und Schaffensjahren von 1924 bis 1926 in französischer Sprache schrieb. Er habe alles gelesen, was ihm vom Dichter in die Hände gefallen sei. Angefangen habe  die direkte Auseinandersetzung, die Transformation mit Rilkes kürzesten französischsprachigen Zyklus «Les Fenêtres». Er «schleuste» die Gedichte via Computer durch alle Sprachen, mit denen sich Rilke auseinandersetzte, ganz am Schluss ins Deutsche, um dann darauf wiederum dichterisch zu reagieren, neue Bilder, neue Zusammenhänge entstehen zu lassen.

Rolf Hermann erklärt dies eindrücklich an einem Beispiel:

Rilkes Original:

II

Tu me proposes, fenêtre étrange, d’attendre;
déjà presque bouge ton rideau beige.
Devrais-je, ô fenêtre, à ton invite me rendre?
Ou me défendre, fenêtre? Qui attendrais-je?

Ne suis-je intact, avec cette vie qui écoute,
avec ce cœur tout plein que la perte complète
Avec cette route qui passe devant, et le doute
que tu puisses donner ce trop dont le rêve m’arrête ?

Was der Computer generierte quer durch die Sprachen von Französisch ins Arabische usw. ins Deutsche:

II

 Ich war ein spezielles Feld angeboten, hoffe ich.
Fast seine beige Vorhang destabilisieren.
Wenn die Verbindung Fenster oder gehen?!
Oder das Fenster zu schützen? Wer würde nicht erwarten?

 Sie sind völlig intakt aus diesem Leben gehört zu werden,
Alles vollständigen Verlust des Herzens?
Auf diese Weise und Zweifel
Es kann Ihnen aufgehört zu träumen?

Was Rolf Hermann damit machte:

I

hat es in ihnen aufgehört zu träumen

jenseits der aufbäumenden räume 
flirren diesseitslider 
im irisierenden takt der silberpappeln
ein verlust der grossraum-herzen

das waren-ich ist botenstoff im angebot
das illusorisch lodernd hin zum fenster geht 
und eine träne schützt 
die da nicht warten wird

Rolf Hermann durchstreift gleich mehrere Landschaften synchron, jene seiner Erinnerungen, seiner Kindheit und Jugend, jene seiner Heimat, dem tiefen Tal, den steilen Hängen und jene seines schreibenden Bildervaters Rilke, der noch immer atmosphärisch im Rhonetal wirkt. Sein Langedicht «eins» versetzte mich bei der lauten Lektüre in einen wahren Sprachrausch. Ein Gedicht, das eindrücklich beweist, wie klar und doch vielschichtig Lyrik sein kann, wie sehr einem Sprachkunst in Ekstase versetzen kann, wie leidenschaftlich Lyrik beim Schreiben und Lesen Lebenslust erzeugen kann!

Rolf Hermann ist Gast am Wortlaut-Literaturfestival in St. Gallen, mit «In der Nahaufnahme verwildern wir» Teil der Eröffnung am 25. März und am 27. März in einer von mir moderierten Lesung. Wortlaut-Programm

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, Kanton Wallis, lebt als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Er schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele, Spoken-Word- und Theatertexte. Das Studium der Anglistik und Germanistik in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Neben Einzellesungen aus seinen Büchern tritt Hermann mit zwei weiteren Projekten auf: der Mundart-Combo Die Gebirgspoeten und der Spoken-Rock-Formation Trio Chäslädeli. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kulturpreis der Stadt Biel (2017) und dem Literaturpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Flüchtiges Zuhause» (2019).

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Beitragsbild © Dirk Skiba