Nichts und niemand repräsentiert in der aktuellen Literaturszene der Schweiz die neuen Kräfte besser und beeindruckender als die Reihe «edition spoken script» vom Luzerner Verlag «Der gesunde Menschenversand». Guy Krneta, Jens Nielsen, Pedro Lenz, Michael Fehr, Nora Gomringer, Ariane von Graffenried und viele andere, darunter auch der Walliser Gebirgspoet Rolf Hermann.
Bei all den Veröffentlichungen unter dieser Reihe war zuerst das mündliche Erzählen, die Performance auf der Bühne, die Prüfung vor dem Publikum, erst dann das Buch. Und was bisher bis zum Band 23 gewachsen ist, macht sich nicht nur im Bücherregal ausgesprochen gut!
Rolf Hermanns Texte sind skurrile Steilvorlagen. Seine Protagonisten, die Walliser, von denen fast alle Texte im Band «Das Leben ist ein Steilhang» erzählen, erleiden stoisch und mit Gelassenheit, allem gegenüber mit einer ordentlichen Portion Hilflosigkeit, was an den steilen Felshängen der Walliser Täler entspringt.
Es sind Geschichten um ein Tal, ein Volk, seine Familie, eine Sippe, die ihren Anfang vor 200 Jahren in diesem Tal hart verdienen mussten. Rolf Hermanns „Urahne“, zugezogen aus dem Üsserwallis, versuchte sich ein Leben lang als Fremder zu integrieren. 50 Jahre lag bat dieser vergeblich um Einbürgerung, die ihm erst mit 72 zugesprochen wurde, weil man dachte, er würde es wohl eh nicht mehr lange machen. Weit gefehlt. Neun Monate später gab es einen Nachfahren, der der erste sein sollte in einem langen Fächer einer Sippe, die Rolf Hermann zum «Einheimischen» machte.
Rolf Hermann fabuliert ums Fremdsein, sein Zuhause, die schrulligen Alten, die es im Jetzt kaum mehr zu geben scheint (mit Sicherheit aber in den Walliser Tälern!). Träfe Texte, die triefen. Hymnen über Nachbarn, die liebsten Feinde!
Rolf Hermann verklärt nie, reisst dafür umso mehr auf, lässt tief blicken in die Risse der Gesellschaft. Texte, die glücklicherweise nicht einfach nach Pointen jagen.
Zusammen mit den sphärischen (in keiner Weise esoterisch gemeint) Klängen des Gitarristen Oli Hartung war die Performance auf der Bühne der Hauptpost St. Gallen wie ein Roadtrip durch das sonnenverbrannte Wallis, eine glühend aufgeheizte Landschaft. Eine saloppe Fahrt mit dem offenen Cadillac, im Gepäck eine Jagdflinte, vorbei an rot gefärbtem Gras, dramatischen Bildern und scharfen, kantigen Felsen, die den Zuhörer zu ritzen scheinen.
Soll ich mir das antun? In Walliser Dialekt geschrieben, einer Sprache, von der ich kaum ein Wort verstehe, wenn zwei Einheimische miteinander sprechen? Sollt man? Ja, unbedingt! Viele Texte im Buch sind von Ursina Greuel ins Deutsche übertragen – und alle anderen Texte, die ursprünglich bleiben, schaffen es trotzdem, ihre Wirkung zu entfalten. Es sind mehr als Texte! Es ist Sound, Musik, uriger Walliser Groove!
Ä bsundri Gaab
Där Maa va miinär Groostanta, där Schüül, isch mit du Jaaru immär gliichgültigär cho. Am Ässtisch zum Biischpil hätt är schich jädäd Maal hinnär därä grppssu Zitig värschanzt und alläs schtillschwiigund gässu, waa mu miini Groosstanta vorgsäzzt hätt. Äsoo cha das nit wiitärgaa, hätt miini Groosstanta gideicht und dum Schüül nummu no Chazzufüettär üffgitischt. Abär nit ämaal das hätt där Schüül gmärkt. Är hätt eifach wiitärgässu, und zwar äsoo lang, bis miini Groosstanata iru Schüül niimä va irär Chazz hätt chännu unnärscheidu. Und will miini Groosstanta schoo immär di bsundri GAab hätt ka, übärall nummu ds Güeta z gsee, hätt schi schich vor allum gfreibt, dass schi jäzz äsoo nä blizzgschiidi Chazz hätt.
Eine besondere Gabe
Jules, der Mann meiner Grosstante, wurde mit den Jahren immer gleichgültiger. Am Esstisch zum Beispiel verschanzte er sich jedes Mal hinter einer grossen Zeitung und ass stillschweigend alles, was ihm meine Grosstante vorsetzte. So kann das nicht weitergehen, , dachte meine Grosstante und tischte Jules nur noch Katzenfutter auf. Aber auch das merkte Jules nicht. Er ass einfach weiter, und zwar so lange, bis meine Grosstante ihren Jules nicht mehr von ihrer Katze unterscheiden konnte. Und weil meine Grosstante schon immer die Gabe hatte, überall nur das Gute zu sehen, freute sie sich vor allem darüber, dass sie jetzt eine so blitzgescheite Katze hatte.
Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo «Die Gebirgspoeten». Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit einem Literaturpreis des Kantons Bern (2015).