Frederick Bingo Mandeville, Meister der Selbstinszenierung, schon als Kind mit dem Namen „Spassvogel“ markiert, wird britischer Schriftsteller, ein Gigant im Literaturbetrieb mit über 50 Romanen. Und doch bleibt am Schluss eines langen Lebens nur der schwere Stein auf dem Friedhof über einem Komet, der in der Grube langsam erkaltet.
Ich nahm den Roman nur schon zur Hand, weil ihn der Schriftsteller Christoph Hein vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzte. Der Name des Übersetzers, eines Schriftstellers, den ich seit Jahrzehnten überaus schätze, musste doch Garant und Versprechen genug sein, denn über das Pseudonym Philipp Lyonel Russell sind zumindest bis jetzt keine Rätsel zur knacken.
Frederick Bingo Mandeville geniesst bis kurz vor seinem Tod eine Sonderstellung, schon als ihn die Hebamme in die Wiege, die Ammen an ihre Brüste legten. Ein Sonnenkind. Ein Kind, das sich auch nicht grämt, als sich die Eltern wieder in den fernen Osten absetzen, um dort den hehren Aufgaben für Vaterland und Krone weiterzudienen und den Kleinen zusammen mit seinen Schwestern den Tanten überlassen.
Bingo erobert seine Welt im Sturm, obschon er von seinem Ammenduo gemästet zeitlebens den Speck nicht mehr ablegt. Trotz seiner Fülle, obwohl er in der Schule und später als Jugendlicher weder beim Militär noch im Sport zu reüssieren vermag, liegen ihm die Menschen zu Füssen. Denn Bingo kann eines wie kein anderer; erzählen. Zuerst gegen den Willen seiner Eltern in kleinen Theatern in London, später in Übersee vor immer zahlreicheren Zuschauern und Zuhörern, dann in der ‚Abtei‘, der Drehbuchwerkstatt von MPPC in Fort Lee nahe New York, dort, wo in prehollywood’schen Zeiten die zaghafte Filmgeschichte der USA begann. Schon dort beginnt Mandeville zu schreiben, Romane, die er in Schliessfächern zurückhalten muss, weil er vertraglich ganz an seinen rigiden Arbeitgeber gebunden ist.
Aber nachdem er, der allen Frauen gegenüber stets zuvorkommend und niemals aufdringlich war, eine Frau kennenlernt und von ihr zukünftig getragen wird, startet er als erfolgreicher Schriftsteller durch. Von den Fesseln der Filmindustrie und des Alltags befreit, schreibt sich Mandeville in die Herzen der Amerikaner genauso wie in jene der Europäer. Nur nicht ins Herz seines Vaters, der sich noch immer schämt über seinen aus vom britischen Selbstverständnis emanzipierten Sohn.
Frederick Bingo Mandeville ist zufrieden. Er schreibt in seinem Arbeitszimmer mit Sicht aufs Meer, seine Frau tut alles, dass er es ungestört tun kann und seine Romane verkaufen sich wie warme Semmeln.
Selbst als auf dem alten Kontinent der Krieg ausbricht, ist das nichts, was mit der Welt Frederick Bingo Mandeville zu tun hat, auch nicht in den Welten seiner Romane, die nicht abbilden sollen, womit die Gegenwart zu kämpfen hat. Mandevilles Romane sollen Erholung sein, eine Auszeit bedeuten. Selbst als England Deutschland den Krieg erklärt, glaubt er an einen Sitzkrieg, einen Drôle de guerre, einen Zustand, der mit britischer Diplomatie zu entschärfen ist. Bis deutsche Soldaten auf seinem Grundstück in Boulogne-sur-Mer auftauchen und den Schriftsteller im Viehwagon nach Spittal in Kärnten karren, in ein Internierungslager für Engländer. Aber selbst dort inszeniert er sich als „Spassvogel“, tut, was er wie kein anderer kann; Menschen mit spitzer Zunge unterhalten, selbst als ihn die Nazipropaganda über Radio Germany Calling erzählen lässt, wie fein man sich um die englischen Internierten kümmert.
Mandeville merkt nicht, isoliert von allen Informationen über den katastrophalen Kriegsverlauf, dass ihn seine britische Heimat zum Verräter abgestempelt hat. Nach dem Krieg nützen alle Beschwichtigungsversuche nichts. Sein Stern schwindet, seine Romane sollen vergessen werden, die Welt, sein Publikum wendet sich ab.
„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist ein Roman über Verblendung. Frederick Bingo Mandeville erzählt zwar, filtert seine Wahrnehmung nach dem, was in seiner geschlossenen Welt Verwendung findet, sieht aber nicht. Sieht nicht, was Leben ausmacht, sondern verkauft in Geschichten verpackt, was sein Publikum hören und lesen will. Frederick Bingo Mandeville ist ein Mann, der sich in seinem ganzen Tun der Welt mit grossem Erfolg verschliesst, dem der Erfolg recht gibt. Bis das Weltgeschehen ihn dafür straft. In der Gegenwart fordert man von keiner anderen Kunst wie der Schriftstellerei Haltung der Welt, dem Weltgeschehen gegenüber. Die Gegenwart zeigt, wie sich Autoren mit nicht mehrheitsfähiger Meinung ins Abseits reden und schreiben können (Peter Handke mit seiner Sicht auf Serbien, Uwe Tellkamp zu Flüchtlingspolitik). Selbst die Naivität eines grossen Autors wie Frederick Bingo Mandeville im Roman von Philipp Lyonel Russell wird gnadenlos bestraft.
„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist meisterhaft erzählt und ins Weltgeschehen eingeflochten. Ein Roman, dem man vielleicht vorhalten kann, dass einem als Leser die eigentliche Hauptperson seltsam fern bleibt. Aber vielleicht ist das Absicht, denn auch der Protagonist selbst bleibt sich fern, eingebettet in eine Welt nach seinem Geist, ein Leben lang über den Boden der Realität getragen, eingepackt in eine dicke Schicht isolierendes Fett.
Philipp Lyonel Russell wurde 1958 in der englischen Grafschaft Suffolk geboren und lehrt seit 1986 an Universitäten der Ostküste der Vereinigten Staaten, derzeit hat er einen Lehrstuhl in Boston inne. Er hat sich als Autor und Mastermind der National Science Foundation einen Namen gemacht. Seinen neuen Roman veröffentlicht er unter dem Pseudonym Philipp Lyonel Russell.
Christoph Hein, der Übersetzer, (1944) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er verfasste ein umfangreiches Werk und gilt als einer der Grossen der Deutschen Gegenwartsliteratur.
Beitragsbild © Sandra Kottonau