Nancy Hünger «Wir drehen dem Meer unsere Rücken zu», Azur

Ich bin gleichermassen verblüfft, erschlagen und beglückt. Nancy Hünger lässt mich nach der Lektüre ihres Romans mit vielen Fragen zurück. Genau das, was Literatur soll. Weder Sättigungsgefühl noch Berauschung. Und ganz sicher mit dem Gefühl, einer literarischen Perle begegnet zu sein.

„Wir drehen dem Meer den Rücken zu“ ist eine Liebesgeschichte, wenn auch auf einer Seite des Spektrums, wo Nancy Hüngers Buch zu einem Unikat wird, frei von aller Sentimentalität, ganz in der Realität, nie abgehoben, schon gar nicht entrückt. Eine Liebesgeschichte, die deutlich macht, dass Liebe letztlich kein Gefühl ist, sondern eine Entscheidung. Zu einem grossen Teil eine Entscheidung trotz allem. Es hätte die Geschichte einer Trennung werden können, einer Entfremdung, was es letztlich auch wurde, die Geschichte von Ent-Täuschungen, Ernüchterung. Aber da lieben sich zwei, auch wenn es blitzt und donnert, wenn graue Wolken aufziehen und man bei der Lektüre befürchten muss, dass der immer dünner scheinende Faden reissen könnte. Tut er aber nicht. Sie liebt ihn, er liebt sie, sie lieben sich beide, wenn auch nicht im satten Sound einer Romanze, wenn auch nicht im ausfliessenden Glück. Mag sein, dass es Glück gibt. Aber so wie die Liebe zur Entscheidung wird, so wird das Glück zu einem Teil der Bewegung zum Gegenüber.

Nancy Hünger Wir drehen dem Meer unsere Rücken zu», Azur, 2025, 150 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-942375-77-1

Und weil Nancy Hünger in der Lyrik zuhause ist, ist ihr Roman, der auch formal ungewohnt erscheint, nicht nacherzählte Handlung, sondern Resultat einer permanenten Reflexion, eines Nachdenkens, des Haderns genauso wie dem Wissen darum, dass da etwas ist, dass man sich letztlich nur nehmen lassen kann, das jenes Stück Zuhause ausmacht, dass eine Beziehung, eine Langzeitbeziehung ausmachen muss. Neben der Erkenntnis, dass da immer zwei Planeten bleiben, zwei, die sich in einem instabilen Gravitationsfeld umkreisen. Im Wissen darum, dass wir uns letztlich dauernd aus dem Gefühl der Einsamkeit herauswinden müssen, dass es zum Gegenüber immer eine Distanz gibt, sieht man/frau über die Momente der Verzückung hinaus.

Da liebt eine Frau einen Mann, obwohl sie weiss und spürt, dass diese Liebe auch zum Kampf werden kann. Ein Kampf gegen seine Gewohnheiten, auch wenn er sich selbst als Feminist bezeichnet, gegen all die kleinen und grossen Selbstverständlichkeiten, die die feinen und groben Arten der Gewalt in Beziehungen, zwischen Liebenden offenbaren. Mag sein, dass die Grenze zu einer „toxischen“ Beziehung fliessend ist. Vielleicht spielen wir allzu leicht mit dieser Etikette, auch wenn Gewalt an Frauen, Gewalt in Beziehungen in keiner Weise kleingeredet werden darf. Nancy Hünger geht es in ihrem Roman aber nicht draum, Missstände aufzudecken. Sie führt mir vor Augen, dass der Missstand im Kleinen zu finden ist, dass wir in Traditionen sozialisiert werden, die die Formen männlicher Gewalt eindeutig begünstigen. Genau darin liegt die Stärke dieser Liebesgeschichte. Sie spiegelt, was überall passiert und tut dies in einer Sprache, die nicht analysiert, sondern Gefühle, Gedanken spiegelt. In teilweise ganz kurzen Kapiteln, die alle mit einer neuen Seite beginnen, wird das Erzählen zu einem Eintauchen, manchmal fast meditativ, manchmal wie lyrische Prosa, meistens eindringlich, intensiv, von entblössender Tiefe. 

Im ersten Teil des Buches schildert die Autorin die Geschichte einer Liebe, deren Risse immer tiefer, immer offensichtlicher werden. Im zweiten Teil hoffen die beiden auf einer kanarischen Insel auf einen Neuanfang. Ausgerechnet dort, wo die Sonne brennt und es Asche regnet.

Ein ungemein starkes Stück Literatur!

Nancy Hünger, 1981 geboren, studierte Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar und verschrieb sich danach ganz der Literatur. Bei AZUR / Voland & Quist sind bereits sechs Bände mit Lyrik und Prosa erschienen, zuletzt «4 Uhr kommt der Hund» (2020). 2023 wurde sie mit dem Anke Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis ausgezeichnet. 2024 erhielt sie das Stipendium zum Rainer-Malkowski-Preis. Nancy Hünger lebt in Tübingen, wo sie das Studio Literatur und Theater leitet.

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