Mina Wolf lebt allein in einer Wohnung über der Strasse und hat einen Vogel. Eine Krähe. Zuerst frass sie bloss das Fleisch vom belegten Brot, später lockte Mina den Vogel mit Leckereien in ihr Wohnzimmer, wo er sie nun zuweilen besucht und mit ihr spricht. Nur mit ihr, auch nicht mit ihrer Freundin Rosa. Gespräche über alles andere als Banalitäten. Wie es die Menschen schaffen, sich nicht mehr vor sich selbst retten zu können, sich als das Mass aller Dinge zu nehmen und zu vergessen, dass man einst überzeugt war, den Tieren ebenso viel Gottähnliches zuzutrauen wie den Zwischenwesen und den Menschen.
Mina Wolf hat Fragen genug, denn sie ist allein, Journalistin und Gelegenheitstexterin. Allein mit einer Arbeit über den Dreissigjährigen Krieg, der zwischen den Jahren 1628 und 1648 fast die Hälfte der betroffenen Bevölkerung direkt oder indirekt dahinraffte, mit der Festschrift einer Kleinstadt, mit der profanes Geld in die Kasse fliessen soll, den Schreckensmeldungen aus der Presse und dem akustischen Terror in ihrer Nachbarschaft.
Da sind eine Frau, die mit krächzender Stimme und schamlos falscher Intonation einen ganzen Strassenzug von ihrem Balkon aus beglücken will und nicht versteht, dass man ihr nicht dankbar entgegenklatscht, aufgeschlitzte Autoreifen, eine fast vergewaltigte Frau und ein erstochener Hund und immer mehr schwarz, rot, goldene Fahnen, zuerst nur am Taxi des wütenden Fahrers, dann immer mehr.
Mina zieht sich in die Nacht zurück, um die Ruhe zu finden, die sie braucht, um an ihrer Schrift arbeiten zu können und wartet aus Munin, die Krähe, der sie den Namen einer der beiden Raben des germanischen Gottvaters Odin gibt. Hineingestossen von der Brutalität eines eine ganze Generation dauernden Krieges, dessen Schicksale und all dem, was in die offenen Türen ihres sonst stillen Lebens einbricht, breitet sich Chaos im Kopf aus.
„Ich weiss es nicht, vielleicht weil ihr so geheimnisvoll seid. Weil ihr diese Augen habt, so dunkel und unergründlich wie der Äther. Vor allem, weil ihr immer und überall über uns hockt wie ewige Zeugen.“
Monika Marons Roman mischte die ihr sonst so zugewandte Kritik mächtig auf, weil der Roman und seine Rezeption beweist, wie schwierig es ist, Inhalt und Autorin voneinander zu trennen. Wenn im Text Ängste mitschwingen, Ängste vor dem Islam zum Beispiel, ist das Geschrei unzimperlich und die Debatte darüber unverhältnismässig. Monika Maron schrieb ein Buch. Die Frau im Buch heisst Mina Wolf, eine einsame Wölfin in der Angst, die Welt immer mehr dem Chaos übergeben zu müssen. Und so spiegelt sich das Chaos in ihrem Kopf.
Die Krähe sagt zu Mina: „Du traust dich nicht zu sagen, was du denkst.“ Monika Maron traut sich zu sagen, was man denken kann. Was gedacht wird. Was in vielen Ängsten steckt. Sie stellt Fragen und debattiert mit einem Göttervogel, der ihr die Stirn zu bieten weiss. Fragen über Krieg, Überalterung, über die Dynamik einer Zusammenrottung und die Unfähigkeit aus Fehlern wirklich zu lernen. Mit einem Mal brennt der Spiegel des Weltgeschehens ein grosses Loch in den Quartierfrieden ihrer Stadt.
Monika Maron wagt es, erstaunlich mutige Fragen zu stellen, und setzt sich mit deren Antworten aus den Figuren ihres Romans in Nesseln, weil wir keinen Platz mehr haben für pointierte, unausgewogene, kompromisslose Antworten, die sich nicht als Meinung verstehen, auch nicht als wahrheitsgebende Betrachtung in einer Welt, die an Harmoniesucht zu ersticken droht. Monika Maron ist eine Seismographin!
Monika Maron ist 1941 in Berlin geboren, wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, darunter «Flugasche», «Animal triste», «Endmoränen», «Ach Glück» und «Zwischenspiel», außerdem mehrere Essaybände, darunter «Krähengekrächz», und die Reportage «Bitterfelder Bogen». Zuletzt erschien der Roman «Munin oder Chaos im Kopf». Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis (1992), dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2003), dem Deutschen Nationalpreis (2009), dem Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und dem Ida-Dehmel-Preis (2017).
Beitragsfoto © Sandra Kottonau