Max Porter «Lanny», Kein & Aber

Wer nimmt uns die Träume, wer die Bilder, Stimmen und Gesänge unserer Kindheit, das Wissen, dass alles anders ist, als es sich die Erwachsenen mit aller Wissenschaft einreden und einbilden? Max Porter hat den kindlichen Blick nicht verloren. Es ist, als ob er in ganz besonderer Weise sehend wäre. In der Geschichte um den verschwundenen Lanny nimmt uns der jung gebliebene Max Porter in jene Zwischenwelt, die den meisten hinter Ratio und Glauben in vielfältigster Form verborgen bleibt.

Ein kleines Dorf nicht weit von London. In einem der wenigen Häuser lebt eine junge Familie mit Lanny. Lanny ist anders, ob in der Schule oder zuhause; Lanny lässt sich nicht einordnen, fasziniert und verunsichert. Die Lehrerin schwärmt, weiss, dass von dem Jungen etwas ausgeht, was in der ganzen Klasse wirkt. Lannys Mutter spürt, dass ihr Junge Dinge sagt, spürt, sieht und weiss, die ihr verborgen bleiben. Lanny ist mit den Dingen der Welt in einer Art und Weise verbunden, die sich der Mutter entziehen. Aber sie lässt ihn, lässt ihn gewähren, herumstromern, bis in den Wald.

Sie selbst ist Schauspielerin und Schriftstellerin, schreibt Krimis, in denen eine Welt herrscht, die sich diametral von der unterscheidet, in der sich ihr Junge bewegt. Lannys Vater arbeitet in der Stadt, in London, in einer Welt, die sich nicht nur geographisch der von Lanny entzieht. Und weil Lannys Mutter spürt, dass ihr Sohn in vielem eine eigene Art des Ausdrucks sucht, fragt sie den verschrobenen Künstler Pete, der einmal ein gefeierter Szenenmann war, ob er Lanny unterrichten würde.

Lanny spricht mit den Wurzeln, erzählt von einem Mädchen, das in einem Baum wohnt, seit Hunderten von Jahren und stellt Fragen, die ein Junge in seinem Alter sonst nicht stellt: «Was meinst du ist geduldiger, eine Idee oder eine Hoffnung?» Pete versteht, genauso wie der rätselhafte, mythische Altvater Schuppenwurz, eine märchenhafte Stimme im Buch und im Äther dieses Dorfes, was mit dem Verschwinden des kleinen Lanny aus den Angeln gehoben wird. Mit einem Mal ist alles anders. Was im ersten Teil ein Kammerspiel zwischen Lannys Eltern, dem Künstler Pete und der Stimme aus dem Off, jener von Altvater Schuppenwurz ist, wird im zweiten Teil, nachdem Lanny verschwunden ist und bleibt zu einem mehr- und vielstimmigen Chor aus Dorfmitgliedern und Kommentaren, die sich immer tiefer ins undurchsichtige Geschehen im Dorf einmischen. Das, was die Mutter in ihren Kriminalgeschichten schrieb, wird mit einem Mal Dreh- und Angelpunkt in einer Geschichte um Verzweiflung, Panik, Verleumdung und Schuld.

So wie Lanny als Kind, als Protagonist nur schwer zu fassen ist, so schwer fassbar ist die Geschichte, Max Porters Art zu erzählen. Er kümmert sich nicht um Klarheit und Stringenz. So wie das Schriftbild im Buch dann auseinanderzufliessen scheint, wenn Altvater Schuppenwurz seine Stimme erhebt, so sehr fliesst das Geschehen über das Reale hinaus, wabert in Träumen, im Surrealen. Ich als Leser kippe dauernd zwischen Faszination und Verunsicherung, Durchblick und Verwirrung, Nähe und Distanz. Es ist, als ginge Max Porter so nahe ans Geschehen, dass ich drohe, den Blick für das Ganze zu verlieren, so wie wenn ich meine Nase eine Hand breit vor ein Gemälde von Segantini setze und dabei nur noch den einzelnen Pinselstrich, die aufgetragene Farbe erkenne. Max Porter protokolliert nicht, er malt.

Wer bereit ist, bei der Lektüre eines Buches ein Abenteuer einzugehen, der lese «Lanny». Es bleibt haften!

© Lucy Dickens

Max Porter, 1981 geboren, studierte Kunstgeschichte und arbeitete jahrelang als unabhängiger Buchhändler, was ihm den Young Bookseller of the Year Award einbrachte. Seit 2012 ist er Lektor bei Granta Books. «Trauer ist das Ding mit Federn» ist sein schriftstellerisches Debüt.

Beitragsbild © Sandra Kottonau