Martin R. Dean erzählt in seinem autobiographischen Roman „Takab und Schokolade“ von Erkundungen über seine Herkunft, dem Gefühl einer Rastlosigkeit, der Suche nach Zugehörigkeit, Familie und Vergangenheit. Auch ein Roman darüber, was Verleugnung und drohendes Vergessen anrichten kann und nicht zuletzt ein Buch über Verlust.
Wir tragen nicht nur Geschichten mit uns, auch Geschichte. Und mit jedem Sterben, jedem Tod brechen Geschichten und Geschichte weg, sinken ins Vergessen. Es sind nicht nur die eigenen Erlebnisse eines Lebens, die sich ins Bewusstsein eingraben, mit denen man lebt, entscheidet, denen man folgt und von denen man zehrt. In unserem Unterbewusstsein begleitet uns mit Sicherheit Eingeschriebenes aus früheren Generationen, als wäre es ein genetischer Code, der erst dann reaktiviert wird, wenn wir uns mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen beginnen.
Der Schriftsteller Martin R. Dean beschäftigt sich nicht erst mit seinem akuellen Buch mit Herkunft, Zuschreibung und Heimat. Seit drei Jahrzehnten kreist der Schriftsteller immer wieder um seine Herkunft, seine Familie aus mehreren Kulturen, einer aus Norddeutschland stammenden Familie seiner schweizer Mutter und eines aus Trinidad stammenden Vaters. Martin R. Dean, aufgewachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen im Kanton Aargau, ist sich seinem Anderssein schon sehr früh bewusst, nicht nur wegen seiner dunkleren Hautfarbe, sondern weil seine Mutter sich nach der Trennung von jenem Vater und eines gescheiterten Traums, in Trinidad heimisch zu werden, nie mehr in jenes Land zurückkehrt. Ein Land, ein Stück Vergangenheit, das die Mutter mehr und mehr aus ihrem Leben verdrängt, nicht zuletzt darum, weil neue Beziehungen der Mutter das Gravitationsfeld der Familie nachhaltig verändern, bis zur totalen Verdrängung.
„Von Raum zu Raum gerate ich immer tiefer in die Geschichte meiner Vorfahren.“
Mit Sterben und Tod seiner Mutter macht sich Martin R. Dean auf auf eine Suche nach der Familie seines leiblichen Vaters. Im Bewusstsein, dass sich hinter den Schwarzweissfotos seiner Mutter, die er aus ihrer Hinterlassenschaft retten konnte, nicht nur ein paar Lebensjahre eines versuchten Familienglücks verbergen, sondern die Geschichte eines ganzen Landes. Es beginnt eine Reise in die Tiefen eines andern Kontinents, ganz anderer Geschichten, einer ganz anderen Geschichte. Jene von Sklaverei, Ausbeutung, Verschleppung, Unmenschlichkeit und Entwurzelung. Jedes Treffen mit Verwandten öffnet neue Türen, Leben, die aus dem Vergessen hervortreten, Leben, die zum eigenen werden. Mit einem Mal offenbart sich ein Wurzelgeflecht, das sich zum Reichtum wandelt. Was ein Leben lang zu einengenden Zuschreibungen und Ausgrenzungen führte, wird durch diese Reise nach Innen und Aussen zu Weite und Perspektive, zu Reichtum und Heimat.
„An den Dingen kleben die Geschichten, und selbst wenn sie nicht mehr in Gebrauch sind, sprechen sie von dem, was sie uns einmal wert waren.“
„Tabak und Schokolade“ ist auch eine Rückeroberung der Mutter, die Suche nach dem verlorenen Paradies, jenen wenigen Jahren unter Palmen, einer Kindheit in der Karibik, die mehr und mehr erlosch. Jene junge Frau, die über dem Ozean ein neues Leben wagte, deren Ehe aber scheiterte und sie mit einem dunkelhäutigen Jungen an der Hand zurück in die Schweiz zwang, starb gleich mehrfach. Damals, als sie einen Traum aufgeben musste, mit der Dominanz eines Stiefvaters und dem Rassendünkel eines späten Lebenspartners.
Den Roman „Takab und Schokolade“ damit aber zu einer reinen Familienerkundung zu machen, wird dem Buch keineswegs gerecht. Sehr schnell wird mir bei der Lektüre bewusst, wie wenig ich über meine eigene Herkunft weiss, wie unbedarft ich mich über all den Schichten meines Seins bewege, wie gedankenlos ich mich in meinen westeuropäischen Privilegien bewege und wie viel Kampf, Leid und Erniedrigung unter den Grundfesten meiner Existenz verborgen sind.
Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Meine Väter» (Neuausgabe 2023), «Ein Stück Himmel» (2022), «Warum wir zusammen sind» (2019) und «Verbeugung vor Spiegeln – Über das Eigene und das Fremde» (2015). Martin R. Dean lebt in Basel.
Martin R. Dean «Spiegelungen», Plattform Gegenzauber
Illustration © leale.ch