Nichts am Roman «Die unsichtbaren Seiten» ist spektakulär. Aber genau das ist das Spektakuläre am zweiten Roman des Österreichers Martin Prinz. Mit dem Tod seines Grossvaters, einer prägenden Figur in seinem Leben, spürt er seiner Vergangenheit nach, den Generationen vor ihm, der Frage, wie und warum man der geworden ist, der man ist. Es ist die Behutsamkeit seines Schreibens, die Unmittelbarkeit ohne einen Anflug von Exhibitionismus, die Klarheit der Linien, die wunderbar überzeugen.
Wer «Die unsichtbaren Seiten» liest, dem verschliesst sich nicht, dass sich alles an diesem Roman klar verorten lässt. Lilienfeld liegt südlich von St. Pölten, nicht weit von Wien. Ein kleiner Ort, in dem jeder jeden kennt, in dem sich die Strukturen, nicht zuletzt die politischen, bis in die Gegenwart scheinbar klar und eindeutig zeigen. Nach dem Krieg wird dort der Grossvater des Erzählenden Bürgermeister, der «König von Lilienfeld» und amtet fast drei Jahrzehnte.
Als der Grossvater stirbt und ein Haus voller Erinnerungen zurücklässt, streift der Enkel durch das leere Haus und fängt die Stimmen ein, die von überall her, aus allen Dingen und Gegenständen, vor allem aus Fotografien zu ihm sprechen. Fragen, die jedem mehr oder weniger gestellt werden, der sich nach dem Sterben eines Verwandten an den Nachlass machen muss, um das zu retten, was einst wichtig war und nun droht, entsorgt zu werden. Stimmen, die Geschichten erzählen und verschwinden, wenn die Erinnerung an den Verstorbenen zu verblassen droht.
«Die unsichtbaren Seiten» ist keine Abrechnung, da wird nichts aufgedeckt, niedergerissen oder durchleuchtet. Martin Prinz zeichnet unaufgeregt mit der perfekten Mischung aus Distanz und Nähe. Selbst jene Verwandten, die der Erzählende nie wirklich durchschaut, die ihm fremd, auf Distanz bleiben, schildert er mit derart feiner Wahrnehmung, dass aus Distanz Respekt, Liebe wird. Und weil nichts im Erzählstrom aufwirbelt, bleibt der Blick des Lesenden klar, stets vom Geschehen mitgerissen, von der Sprache fasziniert.
Martin Prinz erzählt von jenem Moment an, wo der Erzählende die Welt als solche erkennt. Der erste Teil des Romans ist die langsame Eroberung der Welt eines kleinen Jungen. Er spürt Menschen, ihren Verbindungen, den Ausstrahlungen, den Häusern und Orten nach, sieht zu Beginn mit den Augen eines Kindes. Er sinniert im Verlaufe des Romans immer mehr über die Veränderungen im Grossen und im Kleinen. Er leuchtet einen Ort, ein Geflecht aus, das sich im Laufe der Zeit immer mehr vom Lebensort zum Schlafort wandelt, in dem alles zu verschwinden droht, was Leben und Gemeinschaft über die eigenen Hausmauern hinaus ausmachte. Man spürt Heimweh, die Nähe und Unmittelbarkeit verloren zu haben, jenes kindliche Aufgehobensein ohne Deutungszwang. Die Erinnerung an Geräusche und Gerüche, die ihre entsprechenden Bilder verloren haben. An eine Zeit, in der man sich nicht mit Hobbys vor der Langeweile schützen musste, in der Arbeit Leben bedeutete und Leben Arbeit.
«Die unsichtbaren Seiten» erzählt von den unsichtbaren Seiten. Ein Buch, das sich am literarischen Himmel diametral von Krimis und emotionsgeladener Action unterscheidet. Einem Stück Literaturhimmel, in dem es sehr ruhig geworden ist. Es beschreibt, was sonst schnell nicht der Rede wert ist, schon gar kein Buch. «Die unsichtbaren Seiten» ist eine Liebeserklärung an das Leben und all jene, ohne die man niemals der geworden wäre, der man ist!
Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld (Niederösterreich), studierte Theaterwissenschaft und Germanistik und lebt als Schriftsteller in Wien.
Beitragsfoto © Sandra Kottonau