Jürg blickt stur durch die Windschutzscheibe. «Du bist sauer wie ein Naturjoghurt», sagte ich zu ihm, wenn er als Kind zornig war. Das brachte ihn noch mehr in Rage. Eigentlich habe ich einen guten Draht zu ihm. Einen immer besseren in den letzten Jahren. Obwohl wir uns nicht häufig sehen. Obwohl er was ganz anderes macht als ich. Obwohl er neun Jahre jünger ist als ich. Aber die werden gefühlt immer weniger. Jürg ist fast gleich alt wie Beatriz. Und ich fühle mich ebenso jung wie sie.
Wenigstens bleibt mir heute die Schaukäserei erspart. Früher gab’s keinen Familienausflug ins Voralpental ohne Schaukäserei. Im Restaurant vertilgten wir Vermicelles mit Meringues. Danach ging’s in den Shop, wo wir allerlei Käsesorten, Quark und Honig kauften. Neulich besuchte ich die Schaukäserei mit Beatriz’ Familie. Unter Anleitung stellten wir selber Frischkäse her. In Herzform, ganz nach dem Geschmack der Brasilianer. Am meisten beeindruckte sie aber der grosse Käsefertiger. Auch ich sehe sein glänzendes Kupfer, wenn ich an unsere Käserei denke.
Der Fertiger war rund und riesig. Darin ein weisser See. Vater erwärmte die Kuhmilch und brachte sie mit magischen Beigaben zum Eindicken: Labenzyme aus Kälbermägen und Milchsäurebakterien.
Dann bestückte Vater sein Planetenrührwerk. Er hängte Harfen daran und legte den Schalter um. Die Käseharfen begannen sich im Fertiger zu drehen und einander zu umkreisen. Zwei nebeneinander in der Mitte, die dritte aussen, dem Chromstahlring entlang. Die Harfen tanzten durch die eingedickte Milch, beschwingt und kraftvoll. Umeinander herum und durcheinander hindurch. Scheinbar chaotisch, aber ohne je zu kollidieren. Auf mysteriösen Umlaufbahnen, die ich zu ergründen suchte. Die Saiten zerschnitten die eingedickte Milch in immer kleinere, körnige Bruchstücke. «Je kleiner die Käsekörner, desto härter wird der Käse», belehrte mich Vater. Zum Rühren der Bruchmasse ersetzte Vater die Harfen durch Schaufeln. An den Fertigerrand montierte er Strombrecher. Unsichtbar am Grund wühlten die Schaufeln gegen die Schwerkraft der Käsemasse. Die Brecher bewirkten Querströmungen und körnige Wirbel. Vaters Planetenrührwerk bewegte Milchstrassensysteme. Am Fertiger beobachtete ich sie, hypnotisiert.
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MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch (2020)
Die Weltbevölkerung wächst, noch im 21. Jahrhundert werden mehr als zehn Milliarden Menschen die Erde bewohnen. Die Menschen brauchen mehr Platz, andere Lebewesen werden weggedrückt, täglich sterben Tierarten aus. Wie geht der Mensch, wie gehen Kunstschaffende mit dieser Konstellation um?
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MEHR UND WENIGER führt Medienkunst, Lyrik, Fakten zur Bevölkerungsentwicklung und zu ausgestorbenen Tierarten zusammen. Beim Starten der App befindet man sich in einer urbanen, futuristisch anmutenden Stadtlandschaft, die permanent neu generiert wird. Mit dem eigenen Handy oder Tablet als Flugsteuerung bewegt man sich spielerisch durch eine Metropole aus Bild, Text und Architektur – fliegen durch ein dreidimensionales Buch.
Nähere Infos zur App und Gratis-Download auf Android-Geräte unter MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch – Marc Lee
Konzept: Markus Kirchhofer und Marc Lee, Realisierung: Marc Lee (CH),Gedichte (50 Haiku) von Markus Kirchhofer. Übersetzungen: Erin Palombi (US) ins Englische, Valentin Decoppet (CH) ins Französische, Sound: Shervin Saremi (IR),VR Entwicklung: Antonio Zea (PY), Florian Faion (DE) und Marc Lee (CH)
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Drei der Gedichte von Markus Kirchhofer:
der kiesweg ums haus
ist meine stratosphäre
my home is my earth
über den rücken
der eidechse aus beton
fahren lastwagen
verhüllt unterwegs
in frachtcontainern und tanks
früchte der erde
Markus Kirchhofer, geboren 1963, lebt mit seiner Frau in Oberkulm/AG. Seit 2013 ist er freier Autor, zuvor war er Lehrer und Erwachsenenbildner. In den letzten zwei Jahren erarbeitete er die App «MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch» (mit Medienkünstler Marc Lee, 2020), eine Graphic Novel (mit Zeichner Reto Gloor, 2021), ein Musiktheater (mit Musiker Christoph Baumann, Videodesigner Kevin Graber und Regisseur Nils Torpus, 2021) und den Roman «Das Planetenrührwerk» (2022). Markus Kirchhofers literarische Arbeit wurde mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet, zuletzt von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.