Die „Geschichte eines Sohnes“ ist die Geschichte einer Familie über ein ganzes Jahrhundert, von 1908 bis 2008, zwischen Figeac in Südfrankreich und Paris, eine Geschichte zwischen Alltäglichem und Geheimnissen, über die geschwiegen wird, die sich aber wie ein Alp über die Familiengeschichte legten. Marie- Hélène Lafon schreibt höchst poetisch, in einer ganz eigenen Sprache, in einer eigenartigen Mischung aus Unmittelbarkeit und Respekt.
1908, in einer Zeit, als der Kontinent vor dem grossen Auseinanderbrechen steht, schüttet die Haushalthilfe Antoinette ohne Absicht dem dreienhalbjährigen Armand heisses Wasser aus dem Waschtopf über den Körper, unglücklich, weil sich der Kleine an die Beine Antoinettes wirft. Armand stirbt nach einigen Tagen und alles in dieser Familie wird anders, als hätte Armands Schrei nicht nur seinen Zwillingsbruder Paul geweckt, sondern eine ganze Familie, einen ganzen Haushalt aus der Bahn gekippt. Mutter und Tante retten sich in religiösen Übereifer, der Vater in Ehrgeiz.
Paul schickt man in ein Internat, wo er sich in ein erotisches Abenteuer mit einer Angestellten stürzt. Gabrielle ist 15 Jahre älter als Paul, wird schwanger, will ihr Kind gebären, arrangiert sich selbstbewusst mit ihrer Familie zuhause, bringt ihre Schwester dazu, das Kind in ihre Obhut zu nehmen. Die Vaterschaft muss ein Geheimnis bleiben, weil Gabrielle überzeugt ist, der viel jüngere Paul tauge nicht zur Vaterschaft. André kommt zur Welt und spürt bald, dass das Geheimnis um seinen Vater Geheimnis bleiben wird. Erst am Abend seiner eigenen Hochzeit erfährt André den Namen seines Vaters, ein Name, der aber noch über Jahrzehnte Geheimnis bleiben wird, weil André die Konfrontation fürchtet. Bis das Geheimnis aufbricht.
Marie-Hélène Lafon erzählt die Familiengeschichte in zwölf ineinander verwobenen Kapiteln, eine Geschichte, die sich mir erst in der zweiten Hälfte des Buches ganz erschliesst, weil Marie-Hélène Lafons Roman nicht chronologisch erzählt ist und Schicht um Schicht das Geheimnis einer Familie erst nach und nach lüftet. Auch nicht ganz einfach, sich in den Namen und Familienkonstellationen zurecht zu finden. Marie-Hélène Lafon geht es nicht um Enthüllung. Geheimnisse offenbaren sich nicht mit einem Mal, oft nicht überraschend, viel mehr nach und nach wie ein leckes Fass. Was mich als Leser viel mehr fasziniert als die Geschichte, ist die Sprache. Eine Sprache, die sich mit unter mit einem Mal ganz ohne Satzzeichen aufzulösen scheint, einer Sprache, die nicht in erster Linie Geschehnisse nacherzählen, rapportieren will, sondern Stimmung erzeugen, Klang erzeugen will, ihre Eigenwilligkeit entfalten.
Nach „Die Annonce“ der zweite Roman von Marie-Hélène Lafon, der bei Rotpunkt erscheint, von einer Autorin, die von einem anspruchsvollen Publikum zu entdecken wäre!
Marie-Hélène Lafon, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt vorliegen, spielen im Cantal des Zentralmassivs, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den interessantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle. «Die Annonce», 2020 beim Rotpunktverlag erschienen, wurde mit dem Prix Pages des libraires ausgezeichnet und von Arte verfilmt. Für «Geschichte des Sohnes» bekam Lafon 2020 den Prix Renaudot.
Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.
Beitragsbild © Philippe Matsas