Drei Frauen und ein Mann, alle im Herbst ihres Lebens, alle von der Geschichte und ihrer Geschichte an einen Ort gedrängt, der nicht jener sein soll, an dem es enden darf. Kerstin Hensels neue Novelle „Regenscheins Farben“ erzählt von der Kunst; der Kunst der Malerei, der Kunst der Selbstbefreiung, der Kunst, das Glück nicht bloss zu suchen, sondern es notfalls beidhändig zu greifen.
„Regenbein Hühnerklein! Regenbein, was soll das sein!“, ruft man der kleinen Karline schon im Mädchenalter in der Schule hinterher, weil sie anders ist, als alle andern. Vielleicht, weil sie schon anders riecht, weil Hanne Regenbein, Karolines Mutter in der Post arbeitet und dort Mehlkleister, Büroleim und Knochenleim herumsteht. Weil Vater Karl Walzenfahrer im Strassenbau ist und Karline neben Mutters Ingredienzien auch jene des Vaters dem Mädchen zum Malen und Zeichnen zur Verfügung stehen: Teer, Bitumen und Flüssigbeton. Karline beginnt bei der Post zu arbeiten, liebt aber nur die Malerei, malt im Verborgenen, erliegt ihrer unbändigen Lust, den Pinsel zu führen, auch wenn man ihr zu verstehen gibt, dass ihre Art des Malens nicht den Sehgewohnheiten der Gegenwart entspricht.
Sie haust in einer Mansarde, weit oben, auf das Mindeste reduziert. Bis fünf Jahre nach der Wende der Fotograf Rüdiger Habich zur ihr hinaufsteigt mit Fotoapparat und Stativ und in einem letzten, überschäumenden Energieanfall von der unbekannten Künstlerin eine Porträtreihe schiesst, die in der angesagten Galerie Wettengel gefeiert wird. Seine letzte Arbeit, denn abgehängt und frustriert von der digitalen Revolution in der Fotografie packt Habich seine Apparate in den Keller, um sich künftig ganz im Schatten Karlines auszuruhen.
Karline malt weiter, auch wenn ihr Mann Rüdiger immer mehr nur noch ein Schatten seiner selbst, zum Klotz wird, zum eifersüchtigen Hüter ihres kleinen Lebens. Und weil Rüdiger sich selbst noch einmal ins Lebenszentrum seiner malenden Frau rücken will, soll vor seinem absehbaren Ableben noch einmal eine Porträtreihe entstehen, diesmal aber mit seinem Konterfei. Rüdiger stirbt. Karline trägt die Bilder in den Keller, den Mann auf den Friedhof. Es hat fast fünfzig Jahre gedauert, bis Karline ihre ersten Schritte in echte Freiheit unternimmt, wenn auch zaghaft und nicht ohne Hilfe und der stillen Drohung, selbst aus dem Grab: „Ich weiss, wo du bist.“
Aber Karlines Leben ist mit dem Tod ihres tyrannischen Gatten alles andere als vorbei. Auf dem Friedhof, dessen Grabesruhe immer wieder vom lauten Dröhnen startender Flugzeuge zerrissen wird, lernt sie Lore Müller-Killian, eine gestelzte Industriellenwitwe mit Hang zum Theatralischen, kennen und die 80jährige Kunstprofessorin Zita Schlott. Sie alle hegen und pflegen die Gräber ihrer verstorbenen Ehemänner, jede auf ihre Art, die einen mit Hacke und Erde, die andere mit Kühltasche, Kristallkelch und Piccolo.
Und alle drei schauen sie auf den grossen alten Mann mit Hakennase und tadellosem Auftritt. Auf den Galeristen Wettengel, selbst Witwer geworden, seit Jahrzehnten verzahnt mit den Biographien der drei Frauen.
Kerstin Hensel erzählt die Geschichten des illustren Quartetts, wie die drei Frauen um die Gunst von Eduard Wettengel buhlen: Karline in der Hoffnung, endlich jenen Förderer ihrer Kunst zu finden, der sie an der Hand nimmt, raus aus ihrer Isolation, Zita in der Hoffnung, ihren einstigen Musterstudenten zurückzugewinnen und Lore jenen feurigen Verehrer, den sie sich in der leer und öde gewordenen Villa am See wünscht. Kerstin Hensel tut dies, ohne je in Oberflächlichkeiten abzurutschen, stets mit dem Auge der exzellenten Beobachterin und witzigen Erzählerin. Kerstin Hensel beschreibt Beziehungen, enttarnt das feine Geflecht, das sich je nach Wetterlage zu drehen vermag oder gar kippen kann.
Grossartig und gekonnt, ohne je mit einem Satz dem Palaver zu verfallen, überraschend konstruiert und mit einer Leichtigkeit erzählt, die ihresgleichen sucht. Viel mehr als bloss Unterhaltung!
Interview mit Kerstin Hensel:
Wenn Sie beschreiben, wie Karline, die Malerin, den Pinsel führt, dann ist es, als nähmen Sie mich bei der Hand, und liessen mich malen. Ich rieche die Farbe, spüre den Zug. Malen Sie selbst oder ist es tatsächlich möglich, sich durch Imagination so sehr in ein „fremdes Tun“ hineinzuversetzen?
Ich male selbst nicht, habe auch nicht die geringste Begabung dafür. Ich denke, ein Schriftsteller muss in der Lage sein, sich in eine andere (auch ihm fremde) Welt hineinzuversetzen, so dass diese für den Leser sinnlich nachvollziehbar ist. Dazu gehört: Neugierde, Lust, Begeisterung, Erfahrung und natürlich die Beherrschung des Schreib-Handwerkes. Der Rest ist Geheimnis.
Karline Regenbein ist eine ganz eigenwillige Malerin, die sich nicht um den Mainstream kümmert. Gab es eine Künstlerin, einen Künstler, die oder der ihnen als Inspiration diente?
Das ganze Leben dient mir als «Inspiration». Alle meine Figuren sind gleichermassen erfunden, wie auch der Realität verhaftet. D.h. keine Figur ist «authentisch» oder gar entschlüsselbar, dennoch – hoffe ich – sind sie dem Leser bekannt.
Eigentlich ist ihre Novelle auch ein Wendenovelle, in der zwar Deutschlands Wende nur an den veränderten Lebensumständen der Protagonisten abzulesen ist, die aber grosse Wenden schildert, Wendungen, die überraschen und nie ins Klischierte abrutschen. Das gibt der Novelle seine erstaunliche Leichtigkeit. War da nie die Versuchung, ins Epische abzutauchen?
Auch eine Novelle gehört zur Epik, d.h. es wird erzählt, nur nicht so allumfassend bzw. kleinteilig wie es Romanen vorbehalten ist. Jeder Satz ist bei mir harte Arbeit. Der Leser darf dem Text diese harte Arbeit nur nicht anmerken. (Sie sagen es: Leichtigkeit!) 😉
In einem Gespräch zwischen dem Galeristen Wettengel und der Malerin Karline Regenbein verabschiedet sich dieser mit dem Satz „Bleiben Sie bei sich.“. Ein Satz, den die Malerin nicht verstehen kann. Ein Satz, der doch eigentlich genau das Gegenteil von dem ist, was der Malerin fast die ganze Novelle lang nicht gelingt; der Ausbruch. Ist das eigene Selbst nicht das grösste Gefängnis?
Gute Frage. Das eigene ICH kann sehr wohl ein Gefängnis sein, wenn es sich nur aus sich selbst nährt. Das gilt nicht nur für Künstler. Wenn das ICH an Erfahrungen, Gefühlen, Wissen u.s.w. reich ist, kann es strahlen und viel von sich hermachen. Ist das jedoch nicht der Fall, gerät es zur billigen/tragischen/narzistischen Ego-Show, aus der man schwer herausfindet. Andererseits: wer nicht «bei sich bleiben» kann, Angst vor dem ICH, den eigenen Abgründen und Fähigkeiten hat; wer sich nur dem Zeitgeist und dem Erfolg andient, endet ebenfalls im Leeren (in der Eitelkeit). Die Figur Regenbein reflektiert allerdings nicht auf dieser Ebene, sondern stellt ihre Lebensfragen in ihrer Kunst.
Jede der Geschichten der vier Protagonistinnen wäre Stoff für einen Roman gewesen. Vieles deuten Sie nur an, zeichnen durchscheinend und trotzdem scheint sich das Bild in Cinemascope vor mir zu entfalten. Gibt es Maximen, Regeln, Eigenheiten Ihres Schreibens, denen sie sich strickt unterwerfen?
Der «dichte» Text, d.h. die durch blosse Andeutung entstehenden Bilder (wie im guten Kino, ja!) muss Raum lassen für Fantasie und Assoziation, die jeder Leser mit eigener Erfahrung füllen kann. Allerdings ist auch dieses Mittel eine Frage des Masses, also der Fähigkeit, die Spannung genau auszutarieren.
Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Bei Luchterhand sind zuletzt erschienen: die Liebesnovellen «Federspiel» der Band «Das verspielte Papier – über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte» sowie der Lyrikband «Schleuderfigur». Kerstin Hensel lebt in Berlin.
Beitragsbild © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de