Buchkunst – inhaltlich und formal! Judith Schalansky nimmt mich mit auf eine Reise durch Raum und Zeit. In zwölf Kapiteln in zwölf Welten, jedes Kapitel im Buch je ein Bund, zu einem grossen Ganzen gebunden. Zwölf Reisen in zwölf verschiedene Welten, von den Rändern der Mondkrater über ihre Heimat rund um Greifswald bis zu einem untergegangenen Atoll mitten im Ozean. Judith Schalansky ist eine Türöffnerin und literarische Weltenbummlerin.
Ich traf Judith Schalansky im vergangenen Sommer am Literaturfestival in Leukerbad. Während eines Interviews über ihre Arbeit als Herausgeberin der Naturkunden-Reihe, einer ganz speziellen Sachbuchreihe, mit der der Berliner Verlag Matthes und Seitz seit ein paar Jahren Furore macht, erzählte mir Judith Schalansky von ihrem neuen Buchprojekt bei Suhrkamp. Ein Buch, das bald herauskommen werde, aber noch gar nicht zu Ende geschrieben sei. Aber da sprach weder Hektik noch Sorge. Judith Schalansky ist Sammlerin. So wie sie in ihrem Buch «Fraktur, mon amour» (2006) Schriften sammelte oder «Atlas der abgelegenen Inseln. 50 Inseln, auf denen ich nie war und nie sein werde.» (2009) Eilande mit phantastischen Geschichten, sammelt die Autorin in «Verzeichnis einiger Verluste» Abhanden-Gekommenes, Nachgesagtes und Legenden, Vergessenes.
Doch diesmal ist es nicht blosses Sammeln und Fantasieren. Judith Schalansky setzt jede Erzählung in ein Leben, gibt den Protagonisten mit schlafwandlerischer Sicherheit eine eigene Stimme, Kapitel für Kapitel, Bund für Bund. So wie auf den beiden Raumsonden Voyager I und II zwei goldenen Platten die Zeichen unserer Zivilisation in den galaktischen Raum getragen werden, beschreibt die Autorin die schattenhaften Errungenschaften der Menschheit, hinausgetragen aus dem Astralleib des Vergessenen in eine dargebotene Perle der Literatur.
Judith Schalansky kann sich regelrecht in Rage schreiben, wenn sie von ihren Beobachtungen, Forschungen und Begegnungen erzählt, als Zeuge in einem Stall bei der Geburt eines jungen Schafs, auf der Suche nach Monstern im Wallis, über dem Wunder zerstörter Architektur oder einem bei gezeigten Film. Ob in der Haut der alt gewordenen Garbo, einer schlecht gelaunten, alten Schachtel mitten in Manhatten auf der Suche nach Trost oder in jener einer jungen Mutter, die mit dem Kind im Arm auf den scheinbar untreuen Mann wartet – Judith Schalansky schafft sie alle.
Und jedem Kapitel, jedem Bund ist ein Vorsatz vorangestellt ein grauschwarz schimmerndes Papier mit dem gerade noch sichtbaren Bild zu den jeweiligen verloren gegangenen Dingen, dem Palast der Republik, dem Kaspischen Tiger oder dem Kosmos eines Armand Schulthess, der in den 70er Jahren im Tessiner Valle Onsernone seine ganz eigene Weltordnung errichtete. Bilder, die verschwinden. Geschichten, die Judith Schalansky vor dem Vergessen rettet, zurückholt, und dabei aber alle Endlichkeit deutlich macht.
Aber nicht einfach geflissentlich produzierte Recherchestücke, Splitter aus dem Suchen der Autorin, weder chronologisch, noch logisch, dafür alle mehrschichtig im Leben der Schriftstellerin und «Buchmacherin» verankert, ob mit unauslöschlichen Kindheitsbildern oder mit lebendig gewordener Geschichte!
«Wie alle Bücher ist auch das vorliegende Buch von dem Begehren angetrieben, etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern. Nichts kann im Schrieben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden.» Judith Schalansky
Was für ein Buch!
Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr Werk, darunter der international erfolgreiche Bestseller Atlas der abgelegenen Inseln sowie der Roman Der Hals der Giraffe, ist in mehr als 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der Naturkunden und lebt als Gestalterin und freie Schriftstellerin in Berlin.
Beitragsbild © Sandra Kottonau