In einer Zeit, in der es keine unentdeckten Inseln mehr gibt, keine weissen Flächen mehr auf Karten, in denen es die Menschen immer weiter ins All hinauszieht und selbst die Tiefen der Meere langsam aus dem Dunkel der Ahnung aufsteigen, ist die Sehnsucht nach dem letzten Ort, dem Rand der Welt nicht kleiner geworden.
2009 erschien ebenfalls bei mare das Buch „Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky und entwickelte sich in der Folge zu einem unerwarteten Bestseller. Dass das Buch damals dermassen viele glückliche LeserInnen fand, lässt sich mit der Inselsehnsucht, dem Mythos Insel erklären. Aber ganz bestimmt auch mit Erinnerung. Vielleicht ging es ihnen als Kind wie mir; Karten und Atlanten versprühten gleichermassen Geheimnis und Abenteuer. Mit Augenpaar, Zeigefinger und einer ordentlichen Portion Vorstellungskraft wurde aus dem flachen Papier eine Kulisse, in die man eintauchen konnte. Gedankenreisen mit dem Potenzial zu epischen Ausschweifungen.
Dass der Spanier José Luis Gonzalez Macías mit «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ die perfekte Weiterführung zeichnete und schrieb, macht aus beiden Büchern ein wunderbares Pendant. Leuchttürme sind so etwas wie Zeigefinger, hochgehoben, mahnend und selbstbewusst angesichts der Naturgewalten, die auf die Mauern und Stahlkonstruktionen einhämmern. Zeigefinger, die ausrufen; Wir sind hier! Wir lassen uns allem zum Trotz nicht vertreiben. Klar haben moderne Techniken, GPS, Sonar und Radar die stolzen Recken menschlichen Willens weitgehend unnötig gemacht. Klar nagen Stürme, Salzwasser, Gezeiten und Verschleiss an den Giganten am Meer. Aber je mehr die Glanzzeiten der Leuchttürme in die Vergangenheit rutschen, desto mehr werden die Geschichten, die sich über die Jahrhunderte an jenen einsamen Orten abspielten, zu Mythen.
Die Sehnsucht des Menschen nach Abgeschiedenheit ist ungebremst. In Zeiten, in denen fast alle stets erreichbar sind, in denen Offlinezeiten für die einen schon Abenteuer genug sind, in denen Einsamkeit zu einer Idylle wird, die sie in den seltensten Fällen war, zumal es für den Leuchtturmwärter im letzten Jahrhundert keine Möglichkeit gab, bei aufkommender Depression um einen Helikopter zu bitten, bedient ein Buch wie dieser Leuchtturmatlas Sehnsüchte und Träume perfekt.
Jules Vernes Abenteuerroman „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ machte schon vor mehr als hundert Jahren aus wenigen Quadratmetern den idealen Nährboden für Drama und Tragödie. Dass das Leben eines Leuchtturmwärters, selbst dann, wenn der Turm auf dem Festland steht, kein einfaches war, erzählen all die Geschichten, die José Luis Gonzalez Macías mit Illustrationen und Karten zu den Leuchttürmen verwebt. Geschichten von der Härte, der die Menschen ausgesetzt waren, von Hunger und Krankheit, Wahn und Tod, vom Verschwinden, von Geheimnissen, nie von Reichtum, nie von Ruhm und Ehre, ausser jene von Grace, der man wegen ihrer Heldentat in ihrem Geburtsort Bamburgh ein kleines Museum widmet. Am 7. September 1838 zerbricht die SS Forfarshire in zwei Teile und zerschellt an der Insel Big Harcar vor der britischen Küste. Mit einem kleinen Ruderboot retten Grace und ihr Vater, der Leuchturmwärter einen grossen Teil der Mannschaft und Passagiere. Grace stirbt 28jährig an Tuberkulose, bleibt aber Sinnbild dafür, dass Menschen, die an solchen Orten leben und wirken, aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sind.
Die Namen der Orte, an denen die Leuchttürme stehen, lesen sich wie eine Kette kantiger Steine: Clippeton, Erded Rock, Great Isaac Cay, Maatsuyker, Robben Island… „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ ist ein Mahnmal für all jene Orte und Menschen, die der stürmischen See und mit einem solchen Buch dem globalen Vergessen trotzen.
Und nicht zuletzt ein wunderschönes Zeugnis moderner Buchkunst!
José Luis González Macías, geboren 1973 in Ponferrada, ist Grafikdesigner, Autor und Herausgeber und seit seiner Kindheit fasziniert von Karten. In seinem Leuchtturm-Atlas verbindet er seine Leidenschaft für Texte und für Bilder und beweist, dass man nicht am Meer gelebt haben muss, um darüber zu schreiben. Der Atlas wurde 2020 vom spanischen Kulturministerium als schönstes Buch Spaniens ausgezeichnet und bereits in vierzehn Sprachen übersetzt.
Kirsten Brandt, geboren 1963, studierte nach einer Buchhandelslehre Portugiesisch, Englisch und Deutsch in Frankfurt, Hamburg, Lissabon und Braga und lebte anschliessend sieben Jahre in Barcelona. Seit 2002 übersetzt sie aus dem Katalanischen (u. a. Carme Riera, Josep Pla und Jaume Cabré), Spanischen und Portugiesischen.
(Bildmaterial aus dem Buch «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ mit freundlicher Genehmigung des Verlags!)
Beitragsbild © Ediciones Menguantes