John Wray «Gotteskind», Rowohlt

Bis zum 11. September 2001, als drei Maschinen ins World Trade Center und ins Pentagon krachten und 3000 Menschen in den Tod rissen, waren Taliban bärtige «Halbwilde», die weit weg von der «Zivilisation» mit Gewalt den Gottesstaat herbeibomben und -schiessen wollten. Mit einem Mal wurden aus den Barbaren Terroristen, wandelte sich ein einziger Tag zu einem kollektiven Trauma, aus dem viele bis heute nicht aufzuwecken sind.

Aden Sawyer ist nicht Tom Sawyer. Aber vielleicht ist dieser Name kein Zufall. Aden ist achtzehn und haut ab, geht auf eine Reise, von der es kein Zurück geben soll, emanzipiert sich von einem dominanten Vater, den sie Lehrer nennt, der Islamismus lehrt, ohne je von einem Glauben, einer Idee getragen worden zu sein, emanzipiert sich von einer alkoholkranken, apathischen Mutter, die sämtliche Familienfotos an den Wänden ihres Hauses zur Wand gedreht hat.

Sie setzt sich mit ihrem einzigen Freund in ein Flugzeug und fliegt aus den USA bis nach Afghanistan, das Land ihrer Träume, ihren Sehnsuchtsort, schliesst sich einer Meeres an, einer religiösen Schule, um die Suren des Korans auswendig zu lernen. Sie will aber nicht nur ein gottgefälliges Leben führen, sondern mit aller Konsequenz mit dem alten Leben brechen. Sie vernichtet nicht nur ihren Pass, sie kleidet und gibt sich wie ein junger Mann, bandagiert die Brust und nimmt Tabletten, die die Blutungen aussetzen lassen. Sie ist nicht mehr Aden Sawyer, sondern Suleyman Al-Na’ama.

«Gott hat dich von der anderen Seit der Welt in unsere Berge geschickt.»

Aber schon in der kleinen Schule wird nichts so, wie Aden es sich vorgenommen hatte. Zum einen zerbricht die Freundschaft zu ihrem Freund, mit dem sie die USA verlassen hatte, zum andern nimmt sie, ohne es zu wollen, in der kleinen Schule immer mehr eine Sonderstellung ein. Ihr religiöser Eifer, die Tatsache, dass sie Amerikaner(in) ist, ihre Gelehrigkeit und ihr absoluter Wille, ein neues, ganz anderes Leben zu führen, macht aus Aden Suleyman, aus der jungen Frau einen jungen Mann, aus der Flüchtenden eine um jeden Preis gewillte Ankommende. Zwei, die zusammen wegfuhren, sich gemeinsam auf einen Weg machten, entzweien sich mehr, bis hin zur Katastrophe. Je tiefer in der Fremde, je mehr sie eigentlich aufeinander angewiesen wären, desto unvermeidlicher entzweien sie sich, bröckelt Freundschaft.

Aber die Entzweiung spielt sich auch in ihrem Innern ab. Denn Aden setzt auf Lüge, ausgerechnet sie, die in ihrem neuen Leben auf Wahrhaftigkeit setzen wollte, auf Kompromisslosigkeit. Sie sieht sich als Heuchlerin und Lügnerin, sie die für jeden Missstand eine Sure zu rezitieren weiss.

Was im Buch als Katastrophenreigen von der ersten Seite angelegt ist, schleicht sich förmlich an. Decker, ihr Freund, der sich Ali nennt, schliesst sich den Mudschahedin an, den Gotteskriegern, die auf der anderen Seite der Grenze Krieg gegen Ungläubige und Verrat führen. Dass er nichts gesagt hatte, dass es keinen Abschied gab, bricht ihr eh schon eingeschnürtes Herz. Und dass es der väterliche Mullah war, der seinen kämpfenden Sohn davon abhielt, auch Aden als Kämpfer zu rekrutieren, bricht das Herz ein zweites Mal.

Aden – Suleyman haut noch einmal ab, schlägt sich alleine in die Berge, findet Ali in einem Ausbildungscamp und wird selbst zum Krieger. John Wray versteht es meisterlich, den Weg einer jungen Seele nachzuzeichnen, die eigentlich gut und wahrhaftig leben und wirken will, aber durch Willkür, Sachzwänge und Sturheit immer tiefer in ein Konvolut von Katastrophen rutscht, aus der nur die Katastrophe retten kann. Man wechselt Leben, Kultur, Religion und Herkunft nicht einfach wie einen schmutzig gewordenen Umhang. Alles, was unter der Hülle ist, bleibt, bleibt kleben.

John Wray hat einen atemberaubenden Roman über zwei Welten geschrieben, die im Innern einer Achtzehnjährigen kämpfen. Wer mit dem Buch mitgeht, macht eine Reise in das absolut Fremde mit. Eine Fremde, die der Autor kennen muss, von der er mit derart grosser Selbstverständlichkeit erzählt, als hätte er den Roman in einem kahlen Tal irgendwo zwischen Afghanistan und Pakistan geschrieben. Ein Roman, der mit keinem Satz urteilt, mich als Leser nie zu einem Komplizen macht, nicht mit mir spielt.

John Wray recherchierte zu John Walker Lindh, der als «amerikanischer Taliban» bekannt wurde, als er in der Nähe von Kabul einen älteren Mann traf, der ihm nicht nur vom Amerikanischen Taliban erzählte, sondern von einem amerikanischen Mädchen. Die Recherchearbeiten zu einem Sachbuch über John Walker Lindh begannen zu stocken. Statt dessen entstand das Manuskript zu «Godsend», eine «wahre» Geschichte um ein Mädchen, dass sich in Pakistan radikalisiert in den Kleidern eines Jungen.

Grosse, bewegende Literatur!

© Jan Schoelzel

John Wray wurde 1971 in Washington, D.C., als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer österreichischen Mutter geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin «Granta» unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.

Übersetzt aus dem Englischen wurde «Gotteskind» von Bernhard Robben. Im Amerikanischen Original heisst der Roman «Godsend».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau