Zwar gibt es die EU, eine Staatengemeinschaft, «einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb». Und doch sind die einen nicht dabei und andere springen ab, weil nationale Souveränität wichtiger scheint als das Geben und Nehmen über Nationen hinaus. Ivana Sajko schrieb mit «Familienroman» ein ganz besonderes Buch. Ein Buch, das bewusst macht, wie nah die Grenzen im eigenen Kopf gezogen sind.
Als Jugoslawien im Sommer 1991 zerfiel, war es das Ende eines durch Ideologie, Macht und Gewalt zusammengeschraubten Vielvölkergebildes und der Beginn eines zehnjährigen Krieges. Aber schon 1980 mit dem Tod des Langzeitherrschers und Staatspräsidenten Josip Brot Tito brach der Kopf eines Konstrukts weg, das sich als Bollwerk zwischen dem Westen und kommunistischen Block verstand. Tito war die Heldenfigur aus dem Partisanenkrieg gegen die faschistischen Besatzer, eine Leitfigur, die sich in ihrem Personenkult sonnte, dem man seine repressiven Methoden zum Wohle des Volkes nachzusehen schien.
Ivana Sajko schrieb über genau diese Jahre, von 1941 bis 1991, ihren «Familienroman». Aber, was ich lese, ist längst nicht einfach ein Roman über drei Generationen einer Familie, solche gibt es zuhauf. Ivana Sajkos Roman ist eine Art Familienaufstellung. Nicht die Personen selbst sind im Zentrum ihres Erzählens, sondern die Beziehungen zueinander, der Raum, den sie einnehmen in einem Land, einem politischen Gefüge zwischen staatlich organisierter Tyrannei, Lagern für Staatsfeinde und tiefer Ergebenheit einer Lichtgestalt gegenüber. Die Protagonistin ihres Romans ist dieses untergegangene Land. Ein Land, zusammengehalten durch Angst, Abschottung und Repression.
Der Roman erzählt anhand politischer Ereignisse, spiegelt Leben, dass allzu leicht aus dem Bewusstsein von EuropäerInnen fallen kann. Unser Fokus in diese Zeit hängt allzu sehr an Deutschland, Frankreich und der Sowjetunion. Die Balkankriege, die mit einem Mal bewusst machten, dass Kriege bis vor unsere Haustüren rücken können (Damals gruben sich Panzer an der österreichisch-slowenischen Grenze in den Boden!), die Gräueltaten der Kriegsverbrecher und die Flüchtlinge rüttelten für eine begrenze Weile am Selbstverständnis europäischer Sicherheit, bis man die Wirren wieder zu vergessen versuchte.
«Familienroman» dreht den Blick, weg von einer sich langsam trübenden Sicht in die Vergangenheit, zurück zu jenen, die unter diesem Schleier für Generationen zu leiden hatten, die nie eine Alternative besassen, denen die Macht der Grossen das Leben wegfrass. «Familienroman» ist nicht leicht zu lesen. Zum einen weil dieses halbe Jahrhundert vom Schmerz der Menschen trieft, zum andern, weil Ivana Sajko ihren Roman nicht personifiziert. Aber wer sich dem Wagnis einer Lektüre hingibt, wird belohnt, nicht zuletzt durch die Sprache und die Liebe der Autorin für Generationen, die trotz aller Widrigkeiten jener Jahrzehnte dem Leben jenen Funken Hoffnung abtrotzen, den es zum Überleben braucht.
Ich bin tief beeindruckt.
Ivana Sajko (geboren 1975 in Zagreb, Kroatien) ist Autorin, Regisseurin, Performerin, Mitgründerin der Theatergruppe «BAD co.» und Redaktionsmitglied des Kunstmagazins «Frakcija». Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen gehört die Chevalier de l‘ordre des Arts et Lettres. Auf Deutsch erschienen bisher «Rio Bar», «Archetyp: Medea. Bombenfrau. Europa», «Trilogie des Ungehorsams» und «Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution)». 2018 wurde sie für «Liebesroman» mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.
Die Übersetzerin Alida Bremer wurde 1959 in Split/Kroatien geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik und promovierte im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie übersetzte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays, Gedicht- und Erzählbände aus dem Kroatischen ins Deutsche; sie schreibt in deutscher und kroatischer Sprache und lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Münster. Für «Liebesroman» von Ivana Sajko wurde sie als Übersetzerin mit dem Internationalen Literaturpreis 2018 des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.
Beitragsbild © Sandra Kottonau