Dr. Ritter gab es wirklich! Er verliess 1929 Deutschland, hatte das Grossstadtleben satt, die Enge und den Lärm. 1000 km vor der südamerikanischen Küste auf der vulkanischen Insel Floreana liess er sich absetzen. Eine unbewohnte Insel, die zu den Galapagos zählt, mitten im Pazifik, ein vermeintliches Paradies.
Schon vor 90 Jahren war es der Traum vieler auszusteigen. Alles abstreifen, allen Mief, alles Erstarrte, alle Korsetts. Damals der Traum von der unbewohnten Insel, heute noch immer, auch wenn die Distanzen nicht mehr so unüberbrückbar scheinen, ausser man meldet sich für eine Mission auf den Mars.
Ida Hegazi Høyer stiess bei einer Reise auf die Galapagos-Inseln auf die Geschichte des abenteuerlichen Misanthropen Dr. Friedrich Ritter. Eine Geschichte, die die Autorin fesselte, weit über das hinaus, was sich wirklich zugetragen hatte. Ida Hegazi Høyer behauptet mit Recht, dass die Geschichte universell zu lesen ist. Eine Geschichte darüber, wie sehr die Sehnsucht einen Traum über die Wahrheit hinausträgt, wie weit die Wirklichkeit dem Traum hinterherhinkt und wie sehr sich der Mensch anzupassen weiss, wenn die Schere zwischen Traum und Wirklichkeit immer weiter auseinander klafft.
Im Roman heisst der Aussteiger und Aussiedler Dr. Carlo Ritter. Er hatte genug, wollte weg, wollte auf eine einsame Insel, nur noch vegetarisch leben und dabei 140 Jahre alt werden. Das würde durch ihn und sein ausserordentliches Leben bewiesen werden. Mit 345 kg Gepäck; Zucker, Tabak, Werkzeug, Textilien, Hausrat, Lebensmittel, Saatgut, Büchern, Schreibutensilien, einem Stück Seife und einem Stahlgebiss. Am schwarzen Strand der Insel zurückgelassen entledigte er sich zuallererst seiner Kleidung. Er ist nackt und endlich allein.
Aber schon die ersten Tage werden zum Debakel. Tiere fressen seinen Reis, lassen sich nicht vertreiben. Auf der Insel hat kein Tier Angst vor dem zweibeinigen Wesen. Ritter findet keinen geeigneten Unterschlupf. Alles wird nass. Er, der als Krönung der Schöpfung auf der Insel über sich selbst und die verkommene Welt triumphieren wollte, fühlt sich als Nichts, ohne Zuschauer, völlig deplatziert, von der Natur verhöhnt und dem Wahnsinn näher als dem Paradies. Er scheitert kläglich, seine 345 kg Zivilisation in Sicherheit zu bringen. Er scheitert am Versuch, Pflanzen zur Selbstversorgung anzubauen (ausser Tomaten). Er scheitert an der Absicht, auf der Insel als Vegetarier zu leben, bis ihn der Hunger zwingt, Spatzen zu essen.
Ritter schreibt Berichte. Was er schreibt, hat mit der erlebten Wirklichkeit auf der Insel allerdings wenig gemein. Und weil die Berichte von der Insel verschwinden und als Reportagen in Europas Zeitungen erscheinen, macht sich ein Jahr später ein junges Ehepaar auf die Reise zur gepriesenen Insel. Heinzel Wittermann und seine schwermütige und schwangere Ehefrau Marie. Die Naivität der jungen Leute steht der des einstigen Auswanderers Dr. Ritter in nichts nach. Auch sie wollten an ein Paradies glauben, daran, dass nun endlich alles so werde wie in den wunderbaren Schilderungen Dr. Ritters.
Und als noch ein paar Monate später eine Baroness mit ihren Männern ihre Ankunft auf der Insel inszeniert und sich zur Königin und Herrscherin über das Eiland ausruft, beginnen die Magmakammern des menschlichen Gefüges auf der Vulkaninsel zu bersten.
Ida Hegazi Høyer blickt mit den Augen der Siedler auf die Zeichen und Auswirkungen des Geschehens. Auf der Bühne dieser kleinen Insel, die Sprache der Insel selbst, die so ganz anders tickt als das Vorstellbare. Ida Hegazi Høyer ist nicht interessiert an langen, durcherzählten Handlungssträngen, sondern an den vielen Augenblicken, in denen die Insel die Siedler auf ihre Plätze verweist. Sie spielt mit den Urtypen der Gesellschaft; dem totalen Individualisten, der Führerin, den Willenlosen und der Familie, dem kleistmöglichen «Staat». Ein Roman aus der Wirklichkeit, wie eine grosse Versuchsanordnung. So wie die Anordnung auf der Insel 1000 km vor dem Festland Versuche einer Neugestaltung von Gesellschaft waren, so ist das Buch das Mikroskop mit dem Brennpunkt mitten im unglückseeligen Geschehen. Ida Hegazi Høyer erzählt nicht einfach nach, bläht die Fakten mit etwas Fantasie auf zu einer unterhaltsamen Geschichte. «Die schwarze Insel» ist sprachlich opulent, überschäumend und sinnlich erzählt. Sätze von unglaublicher Kraft. Sätze, die mehr als abbilden und wiedergeben, sondern mit der Resonanz in mir sämtliche Sinne erfassen, die Haut kräuseln lassen. Fantastisch wahr!
Ida Hegazi Høyer, geboren 1981 auf den Lofoten im nördlichen Norwegen, stammt aus einer dänisch-ägyptischen Familie und lebt in Oslo. Ihr Debütroman „Under verden“ erschien 2012, seitdem hat sie vier weitere Romane veröffentlicht. Für ihren dritten Roman „Unnskyld“ (2014) erhielt sie den Literaturpreis der Europäischen Union 2015, im selben Jahr zählte sie das Morgenbladet zu den zehn besten norwegischen Autoren unter 35. „Das schwarze Paradies“ (orig.: „Fortellingen om øde“) erschien 2015 und stand wochenlang auf allen nationalen Bestenlisten. Übersetzt wurde «Die schwarze Insel» von Alexander Sitzmann.
Titelfoto: Sandra Kottonau