Wer Erfahrungsberichte aus Kriegen liest, muss feststellen, dass sie keiner Zeit unterworfen sind. Ob während der Weltkriege oder in den Kriegen in der Ukraine oder in Syrien. Der Schrecken ist universell, genauso wie die Wunden, die sich selbst nach Jahrzehnten nicht schliessen.
Ebenso allgemeingültig ist das Schweigen derer, die diesem Schrecken ausgesetzt waren. Ob als Täter oder Opfer, als Zeugen oder als Verschonte. Die Angst vor Wunden, die aufgerissen wieder zu eitern beginnen, wird dort deutlich, wo sich bis heute in Familien eine Wand des Schweigens, des Verdrängens, jegliches Erinnern, jede Form der Auseinandersetzung verunmöglicht.
Auch Helena Schätzle machte diese Erfahrung, begegnete dem als Fotografin in ihrer ganz speziellen Art. Das wenige, das ihr Grossvater, der im 2. Weltkrieg als Maschinengewehrsoldat an der russischen Front teilnehmen musste, das, was er von seiner langen Flucht aus der Kriegsgefangenschaft zurück nach Hause erzählte, nahm sie als Anlass zu einer Reise zurück in die Zeit, einer Reise mit ihrer Fotokamera. Sie fuhr 9645 Kilometer kreuz und quer durch Osteuropa, um nach Menschen, Landschaften, Bildern zu suchen, die etwas von dem verraten, was im Schweigen ihres Grossvaters zu versinken drohte.
Sie fotografierte Menschen, denen Erinnerungen, ein langes Leben Landschaften ins Gesicht schrieb. Menschen, die im Moment des Fotografierens den Blick ins Zurück zeigen. Menschen, die ihr erzählen, ungekünstelt, ehrlich, manchmal von der Unmöglichkeit, den Schrecken des Krieges in Worte zu fassen, manchmal vom schlichten Überleben, manchmal von dem einen Moment, der das Weiterleben ausmachte, manchmal vom Risiko jemanden zu verstecken, manchmal vom Versprechen einer Mahlzeit.
Sie fotografierte Landschaften, Bilder im Jetzt, vernarbte Landstriche, vergessene Orte, einsame Winkel, trostlose Perspektiven. Helena Schätzles Fotos sind geprägt vom grossen Respekt einer vorsichtigen, zurückhaltenden Betrachterin. Helena Schätzle vertraut auf die Empathie jener, die sich die kurzen Berichte, die Dokumente aus jener Zeit und ihre Fotografien betrachten und alles übereinanderlegen. «9645 Kilometer Erinnerung» ist ein beeindruckendes Monument der Vergegenwärtigung, ein Denk-mal in Buchform, der behutsame Versuch einer Annäherung erlebten Schreckens.
Nichts an den Texten aus der Vergangenheit hat an Aktualität verloren. Die 60 Jahre dazwischen sind ein Hauch, ein Nichts. Umso beeindruckender dieses Buch.
Helena Schätzle, Jahrgang 1983, studierte Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Fotografie an der Kunsthochschule Kassel. Seit Jahren unternimmt sie ausgedehnte Reisen in verschiedene Länder, wo sie intensiv an Fotografieprojekten arbeitet. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem durch “gute aussichten”, „The Aftermath Projekt“, „Epson Award“, „Inge Morath Award“. Sie hatte u.a. Ausstellungen in Hamburg, Washington, Kassel, Köln, Mumbai, Stuttgart, Berlin. Helena Schätzle arbeitet als freie Fotografin für verschiedene Magazine und Zeitungen.
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