«Das Foto täuscht nicht, natürlich nicht. Sondern wir täuschen uns.» Das wir dem nicht mehr trauen, was wir sehen, zeigt die Gegenwart mehr als deutlich. Dabei ist es nicht das, was wir sehen, sondern wie wir sehen. Heinrich Steinfest hat eine kluge Novelle geschrieben. Von einem Mann, der sich in einen tödlichen Strudel ziehen lässt.
Ein paar Monate nachdem mein Vater gestorben war, sass ich in einer Strassenbahn in Zürich. Ein paar Reihen vor mir setzte sich ein Mann im Mantel, ohne Hut und legte seine Hände auf den Sitz vor sich. Ich sass paralysiert in meinem Sitz schräg hinter ihm und hätte für einen langen Augenblick wetten können, dass mein Vater dort sitzt: die gleiche Figur, die gleiche Haltung, die gleichen sich lichtenden Haare, und was mich am meisten verunsicherte, die gleichen Hände, die gleiche Art, den Daumen an den Zeigerfinger zu legen. Ich wäre am liebsten aufgestanden, hätte sanft seine Schulter berührt. Aus meiner Starre erwacht war ich sicher, einem Doppelgänger begegnet zu sein. Allerdings nur, bis sich der Mann von seinem Sitz erhob, sich umdrehte und die Strassenbahn verliess. Mit einem Mal war alle Ähnlichkeit abgefallen.
Roy Paulsen ist Visagist in einer Fernsehstation, deckt das zu, was Scheinwerferlicht und Nahaufnahmen unweigerlich zeigen würden. Sein Sohn fotografiert zu Recherchezwecken in Amsterdam und schickt ihm eines der Fotos, überzeugt davon, seinen Vater auf einem Fahrrad, eine der Grachten entlangradelnd fotografiert zu haben. Aber Roy Paulsen war noch nie in Amsterdam. Paulsen pinnt das Foto in seinem Arbeitszimmer an die Wand, aber es bleibt viel mehr in seinem Kopf hängen als an der Wand zuhause. Ein Mann in kurzen Hosen vor einem dreistöckigen Klinkerbau, ein Mann mit seinem Profil, seiner Nase, seiner Brille. Und neben dem Mann auf dem Rad entdeckt Paulsen in einem Fenster des Hauses ein Gesicht.
Das Foto lässt ihm keine Ruhe, als ob es sich über alles andere darüber gelegt hätte. Paulsen beschliesst, seinen Sohn in Amsterdam zu besuchen, obwohl dieser ihm deutlich macht, eigentlich keine Zeit für ihn zu haben. Nachdem die Internetrecherche, digitale Fahrten durch Amsterdam ohne Erfolg blieben, das Haus nicht zu verorten war und sein Sohn auch keine Angaben über den Moment des Abdrückens machen konnte, macht sich Paulsen auf in die Stadt, in der er noch nie war. Es sollte eine Verifizierung werden, fünf Tage, die wenigstens Klarheit liefern sollten, wo dieses Haus steht.
Und tatsächlich, nach einem heftigen Gewitter sieht er auf der anderen Seite einer Gracht dieses Haus, unzweifelhaft. Er geht hin, steht davor und sieht, dass die Eingangstür über der Treppe bloss angelehnt ist. Von unstillbarer Neugier getrieben geht er hinein in das stille Haus, bis er mit einem Mal in einem Raum im Rücken zweier bulliger Männer mit Pistolen steht, die vor einem auf Stühlen gefesselten Paar vor sich deutlich machen, dass die Lage gleich endgültig werden würde. Ein Schuss fällt, der gefesselte Mann auf dem Stuhl kippt zu Seite, Paulsen greift ein und nichts ist mehr so, wie im sonst so geregelte Leben des Visagisten bisher. Aus blosser Neugier wird existenzieller Ernst.
Heinrich Steinfest erforscht nicht nur, was Wahrnehmung anzurichten weiss. Er entwickelt aus einem unscheinbaren Szenario einen wahren Krimi, bei dem es aber nur hintergründig um ein Verbrechen und die eventuelle Aufklärung geht. Neben dem „Doppelgängermotiv“ geht es auch um die Erfahrungen von Déjà-vus, Momenten, die einem glauben machen, man sei in einer Schlaufe gefangen. Paulsen ist getrieben vom Wunsch einer Erklärung. Ein Wunsch, der ihn immer tiefer in einen Strudel rutschen lässt, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt, dass ihm sein altes Leben entreisst.
„Amsterdamer Novelle“ ist ein virtuos erzähltes, literarisches Kleinod, viel mehr als ein Geschichtchen, schon gar kein Krimi – aber steinfestes Kunsthandwerk!
Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis. Bereits zweimal wurde Heinrich Steinfest für den Deutschen Buchpreis nominiert: 2006 mit «Ein dickes Fell»; 2014 stand er mit «Der Allesforscher» auf der Shortlist. 2016 erhielt er den Bayerischen Buchpreis für «Das Leben und Sterben der Flugzeuge», 2018 wurde «Die Büglerin» für den Österreichischen Buchpreis nominiert.
Beitragsbild © Burkhard Riegels