Hans Platzgumer «Bogners Abgang», Zsolnay

Eine Kreuzung mitten in der Stadt, mitten in der Nacht. Ein Auto fährt einen Mann, der mit einem Mal aus dem Dunkel auftaucht, von der Strasse. Was nach einem Unfall aussieht, wird zur Tragödie. Wer trägt die Schuld für das, was passiert? Wer fällt das Urteil?

Andreas Bogner ist Künstler und lebt in Innsbruck, verheiratet und doch mehrheitlich allein in seiner grosszügigen Atelierklause über dem Gewusel der Stadt. Dass ihm der Erfolg als Künstler nicht an den Fersen klebt, erklärt sich Bogner zum einen an seinem fehlenden Existenzkampf, der Tatsache, dass er seinen Lebensunterhalt nicht erstreiten muss, weil ihm sein Vater Mittel genug hinterlassen hatte. Zum andern glaubt Bogner, dass man ihn nicht verstehen will, seine Kunst, seine Sprache, obwohl er sich aus seiner Sicht doch ziemlich deutlich von der regionalen Kunstszene absetzt. Gefüttert wird seine Ansicht durch Schreiberlinge wie den selbstherrlichen Kunstkritiker Kurt Niederer, der ihn immer wieder geflissentlich vorführt und ihn zu einem Exemplar oberflächlicher und selbstherrlicher Möchtegerngenies macht. Kein Wunder, dass es Andreas Bogner am wohlsten ist in seinem Atelier, wo er weder auf das Klingeln der Haustür noch auf die Anrufe seiner Frau reagiert. Dort in jenen vier Wänden ist der einzige Ort, an dem man ihm sein Leben, seine Existenz, sein Tun, seine Kraft, seinen Rausch nicht streitig macht.

Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem er während Stunden an einer Zeichnung arbeitet, einem Portrait einer Walter PPK 7,65 mm, einer Pistole aus dem Waffenschank seines Schwiegervaters, den er lange genug bearbeiten musste, bis dieser ihm widerwillig die Waffe für einige Tage im Atelier überliess. Bis er an diesem Abend per Zufall eine Sendung im Radio hörte, in der der Kunstkritiker Kurt Niederer, sein ganz persönlicher Scharfrichter, zum Todesstoss gegen ihn den Künstler ausholte. Bis er die Waffe entgegen allen Versprechungen seinem Schwiegervater gegenüber packte und sich in der angebrochenen Nacht auf der anderen Strassenseite von Niederer Stammlokal in Stellung brachte.

Hans Platzgumer «Bogners Abgang», Zsolnay, 2021, 134 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-552-07204-6

Nicola Pammer studiert in Innsbruck Deutsch auf Lehramt. Eigentlich kommt sie aus Bregenz und fühlt sich alles andere als wohl in der Stadt am Inn. Noch viel weniger in der lauten WG und dem winzig kleinen Zimmer, dass sie nur mit Stöpseln in den Ohren bewohnen kann. Wenn immer möglich fährt sie an den Wochenenden zurück in die Stadt am See, zu ihren Eltern, in das Leben, das sie ursprünglich dachte, hinter sich lassen zu können. Bis zu diesem einen Abend, als sie sich zu einer Party überreden lässt und das eine oder andere Glas zu viel trinkt. Als sie sich dann doch hinter das Steuer des Autos ihrer Mutter setzt und glaubt, es wäre eine gute Idee, die leeren Strassen, die kaputte Stadt hinter sich zu lassen. Bis ein Rumps durch den alten Ford Fiesta geht und sie im gleichen Moment weiss, dass sie jemanden angefahren hat, kurz das Auto stehen lässt, um dann doch wegzufahren, nicht auszusteigen, nicht zu helfen, nicht zu tun, was ihre Pflicht gewesen wäre. Sie fährt zu ihrer Mutter. Und weil sie die Schuld nicht allein auf ihren Schultern tragen kann, erzählt sie der Mutter, warum sie keine Ruhe mehr findet, warum sie es nicht mehr für sich behalten kann. Erst recht, als in den Nachrichten berichtet wird, dass ein bekannter Journalist und Kunstkritiker mitten in der Nacht angefahren wurde und am darauf folgenden Tag im Spital seinen Verletzungen erlag.

Hans Platzgumer verwebt Leben, die sich sonst nie ineinander verhakt hätten. Er lässt Leben eskalieren, Leben entgleisen. Platzgumer konfrontiert mich mit den kleinen und grossen Grausamkeiten des Lebens, der Willkür des Schicksals, den Tiefschlägen des Zufalls. Alles kippt in einem winzig kurzen Augenblick. Was vorher fest verankert und tief verwurzelt schien, ist mit einem Mal im freien Fall. „Bogners Abgang“ ist kein Krimi, auch wenn da eine Waffe knallt, auch wenn ein Verzweifelter in der Genueser Unterwelt kiloweise Trockeneis besorgt, wenn eine Mutter mit voller Absicht ihren Fiesta gegen die Wand fährt und den Wagen für einen Tausender an einen Autohändler vertickt, nur um ihre Tochter vor den Fängen der Justiz zu schützen. Hans Platzgumer zeigt, wie dünn das Eis ist, wie schmal der Grat, wie bröcklig das Fundament. Wie tief uns Eitelkeiten und Ängste hinabstossen können und wie schnell der freie Fall Fahrt aufnimmt.

Man fällt tief ins Buch!

Interview

Irrtümlicherweise, reflexartig begann ich den Brief mit der Anrede „Herr Bogner“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Platzgumer und Bogner nahe beieinander sind. Bogner ist ein introvertierter, von sich überzeugter Künstler und Einzelgänger. Ein Mann, in dessen Atelier alles seinen Platz hat, alles wohlgeordnet ist. Selbst in seinem Schaffen versucht er Ordnung herzustellen. Und dann wirft ihn das scheinbar vernichtende Urteil eines selbsternannten Kunstkenners aus der Bahn, vollends aus dem Gleichgewicht. Gibt es Kunst nur um seiner selbst Willen? Wer in der Kunst kann sich der Kritik entziehen? Nicht einmal die Kritik selbst.

Lustig, dass Sie mich fast als Bogner angeredet hätten. Ich bin froh, dass ich nicht er bin. Auch tauge ich nicht als Vorbild für diese Figur. Sie ist aber nahe an dem einen oder anderen bohémen Kollegen angesiedelt, den ich kenne. Diese Bogners da draussen haben es nicht leicht. Sie stellen ihr eigenes Schaffen über alles andere und werden von narzisstischen Empfindungen umgetrieben. Das daraus resultierende Achterbahnleben zwischen Kränkungen, Enttäuschungen und kurzen euphorischen Momenten ist schwer auszuhalten – vor allem für empfindsame Seelen, die sie bei aller Eitelkeit noch dazu sein müssen, um ihr Werk zu produzieren.

Kunst um ihrer selbst Willen ist nicht auszuhalten. Andererseits liebe ich eine Kompromisslosigkeit in der Kunst und fordere diese tatsächlich ein. Verschreibt sich ein Kunstschaffender wiederum voll und ganz, vollkommen nackt und ungeschützt seinem Werk, wird es schwer für ihn, mit Kritik vernünftig umzugehen. Er positioniert sich ja von vornherein schon jenseits der Vernunft. Gebeutelte und zerstörte Künstlerseelen entstehen daraus. Ich bin froh, für mich selbst die notwendige Distanz zum eigenen Werk gefunden zu haben. Das erspart mir viel Leid und Ärger. Dem Bogner bleibt nichts erspart.

Ist „Bogners Abgang“ Kritik an der Selbstgefälligkeit?

Das Buch zeigt jedenfalls, wohin ein egozentrisches Dasein führen kann und auch, wie leicht eine derartig veranlagte Person verletzt werden kann. Selbstherrlichkeit versucht fehlende Selbstsicherheit zu kompensieren. Wer diesen Dämon in sich nicht in den Griff bekommt, dessen Leben ist zu grossen Teilen eine Hölle. Kein errungener Erfolg kann jemals Erfolg genug sein. Narzissten sind niemals glückliche Menschen.

Nicola Pammer ist eine stille, stets rücksichtsvolle, junge Frau. Einmal über die Stränge geschlagen, wirft sie der Zufall völlig aus der Bahn. Da nützt auch der Beschützerinstinkt der Mutter nichts. Ist es symptomatisch, dass das Übel dort am heftigsten zuschlagen kann, wo eine reine Seele nicht damit rechnet?

Ich bezweifle, dass es reine Seelen gibt. Auch Nicola ist nicht unschuldig. Sie ist eine angenehmere Zeitgenossin als der Bogner, aber auch sie hat Abgründe. Das Schicksal schert sich meist nicht um die Gerechtigkeit. Nicht jeder bekommt, was er verdient. Doch bei allem Mitleid mit Nicola, Bogner zieht letztendlich keine bessere Karte. Ich persönlich würde lieber wie Nicola, nicht wie Bogner aus dieser Geschichte herausgehen.

Bogner wünscht sich mehr als die Wirklichkeit, die das Leben generiert. Selbst in seinem Wunsch, die Todeserfahrung zu illustrieren, muss sich Bogner der Banalität beugen. Ist Kunst der Kampf gegen die Banalität?

Kunst ist sicherlich Ausbruch aus der Banalität. Gerade in Coronazeiten, in denen wir mit viel weniger Kunsterlebnis auskommen müssen, merken wir das. Kunst stilisiert, überhöht, sie macht aus dem Natürlichen das Künstliche. Verlässt sie die rein unterhaltende Ebene, kann sie unsere Sichtweise auf Dinge verändern. Im besten Fall ist Kunst Zauberei. Sie kann uns den Boden unter den Füssen wegziehen. Sie kann uns uns selbst verlassen lassen. Sie kann Wahrheiten verdrehen, ausschmücken oder auch überhaupt erst erfahrbar machen. Somit trägt sie auch eine grosse Verantwortung in sich.

Nebst unzähligen Tonträgern, die Sie seit bald 35 Jahren komponieren, produzieren und einspielen, vielen Theater- und Hörspielarbeiten, einer Oper und Soundtracks ist Ihre Karriere als Schriftsteller die jüngste. Schwingt beim Schreiben immer ein Soundtrack mit? 

Nein. Ich schreibe immer im Trockenen, vollkommen unbeeinflusst von Musik. Ich steuere auch im Nachhinein gar nicht gern den Soundtrack zu meinen eigenen Texten bei (wie ich es zB. bei der Hörspielinszenierung von «Am Rand» gemacht habe). Geschriebene Sprache muss erstmal ohne Score auskommen können.

Sofern es aber zu Bogners Abgang einen Soundtrack gibt, ist dieser bereits mit einem der beiden vorangestellten Zitate gelegt.

Schwirrt Ihnen bei so viel offenen Baustellen nicht manchmal der Kopf?

Ja, vielleicht, aber wem schwirrt nicht oft der Kopf? Ich kann mich zu 100 Prozent in eine momentane Arbeit hineinfallen lassen. Wenn ich etwas mache, bin ich voll und ganz auf diese eine Sache konzentriert. Ich verschwinde in ihr. Erst wenn sie erledigt ist oder ich erschöpft pausieren muss, treten die anderen Dinge wieder zurück in mein Leben.

Was tut Hans Platzgumer, wenn er die Nase voll hat?

Meditieren. 2x täglich. Das hilft mir, die nötige Gelassenheit wiederzuerlangen.

Erzählen Sie von einem Buch, das Sie in jüngster Vergangenheit aus den Socken gehauen hat?

George Saunders «Lincoln im Bardo». So eine Idee möchte ich einmal haben – und die Fähigkeit, sie so umzusetzen. Ein Jahrhundertbuch.

© Alex Eizinger

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, hat mit seinem Diplom der Wiener Musikhochschule in der Tasche in vielen Teilen der Welt gelebt und mit vielzähligen Projekten seit 1987 auf sich aufmerksam gemacht. Nach dutzenden Alben auf internationalen Labels und weltweiten Auftritten verlagerte er seit den 00er Jahren den Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens hin zur literarischen Arbeit. Seit seinem Debütroman 2005 sind zehn Bücher erschienen.
In den 90ern wurde Hans Platzgumer für einen Grammy nominiert, 2016 für den deutschen Buchpreis.

Rezension von «Am Rand» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Sandra Bellet