Dass Eleonore Frey mit ihrer Erzählung „Cristina“ an die Solothurner Literaturtage eingeladen wurde, ist ein erster Schritt. Eigentlich würde der Autorin nichts weniger als einer der grossen Literaturpreise zustehen, sei es für ihre neuste Erzählung „Cristina“ oder für ihr Gesamtwerk, mit dem die Dichterin seit über dreissig Jahren für Eingeweihte zum Fixstern am deutschsprachigen Literaturhimmel gehört.
Woran es liegt, dass sich nur ein einziges Buch, das Eleonore Frey je schrieb, Roman nennt, mag ein Geheimnis sein. Vielleicht ist es aber auch nur Teil genau jener Bescheidenheit, die diese Autorin ausmacht, sei es in der Art und Weise ihres Auftritts oder in den Themen, aus denen Eleonore Frey Literatur macht. Ihr Schreiben ist ein Veredelungsprozess. Die ehemalige Professorin für Neuere Deutsche Literatur verwendet ihr Instrumentarium unspektakulär, nie explizit, sondern immer im Dienst des Kunstwerks. Klar ist da eine Geschichte, die erzählt werden will, aber Eleonore Frey durchsetzt ihren Stoff mit feinen Linien, denen sie mit aller Konsequenz folgt, ohne jede Vorhersehbarkeit. Sie umkreist ihren Stoff in verschiedenen Perspektiven, leuchtet ihn nie aus, sondern spürt der Wirkung nach, die Sprache und Inhalt entwickeln. So bescheiden sich ihre Erzählung „Cristina“ auf Verkaufstischen gibt, so dicht, überraschend und überzeugend ist „Cristina“. Was Eleonore Frey kann, ist selten genug – Sprache, die funkelt!
Cristina ist eine noch junge Frau, die mit Hilfe ihres Mannes auf eine Vergangenheit zurückschaut, die ihr beinahe alles genommen hat. Ein Kind, ein selbst bestimmtes Leben, eine Zukunft und die Hoffnung. Cristine war schon immer ein Kind, das Grenzen auslotete, dass schon früh spüren musste, dass ein Mädchen- oder Frauenleben im Portugal des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht viel zählt. Frauen hatten zu dienen, zu funktionieren. Und als sie nach einer wilden Bekanntschaft mit dem Matrosen Fernando mit siebzehn schwanger wird, ist die Katastrophe besiegelt. Nicht so sehr jene der jungen Frau, als die der Familie, der Mutter, des Vaters, einer ganzen Stadt. Und weil die Schande verborgen werden muss, schickt Cristinas Mutter die junge Schwangere gegen ihren Willen zu einer Tante weit weg aus Land. Die Tante ist Hebamme und mit der wachsenden Freundschaft der beiden Frauen wächst auch die Hoffnung auf eine Zukunft zusammen mit dem werdenden Kind. Aber Cristinas Mutter erweist sich bei der Geburt des Kindes als böser Engel. Zusammen mit einem Pfarrer lässt sie den neugeborenen Jungen von Cristina ungesehen wegbringen, behauptet er sei tot und gibt ihn zur Adoption frei. Der Schmerz für die junge Mutter ist unsäglich. Noch bleibt sie bei der Tante, beginnt eine Ausbildung als Hebamme, aber ihr Entschluss, ihr Kind zu finden, wird zur Manie. Jeden Jungen, der im Alter ihres Sohnes sein könnte, spricht sie an, stets in der Hoffnung, dieser würde ihre Stimme erkennen.
Jahre später trifft Cristina ein letztes Mal ihre Mutter und stellt all die Fragen, die sich nie beantworten liessen. Aber ihre Mutter antwortet nur: Ein Kind? Du hast nie ein Kind gehabt. Das hast du geträumt. Für Cristina ist ihre Mutter gestorben, Jahre vor ihrem eigentlichen Tod.
Wie viel Schmerz kann man ertragen? Gibt es Wunden, die sich nie verschliessen? Eleonore Freys Erzählung spiegelt die Unverträglichkeiten in den Leben vieler Frauen damals, Leben die sich bis in die Gegenwart spiegeln. Geschichten, die offenbaren, dass nicht das Leben selbst wichtig ist, sondern bloss dessen Wirkung. Wie leicht wirft man drohender Schande gegenüber alles in einen Topf! „Cristina“ ist ein mit aller Zartheit nacherzähltes Stück Frauenschicksal, eine Erzählung, die einem in die Knochen fährt, über die Mechanismen einer Zeit, die weder geografisch noch zeitlich weit von der unseren entfernt ist. „Cristina“ ist eine starke Erzählung über eine starke junge Frau, der Familie und Kirche das Rückgrat brechen wollten – und es nicht schafften.
Ich verneige mich tief vor einer grossen Erzählerin!
Eleonore Frey, geboren 1939 in Frauenfeld, lebt in Zürich. Von 1958 bis 1966 studierte sie Germanistik, Romanistik und Komparatistik an der Universität Zürich und der Sorbonne. 1966 promovierte sie mit einer Arbeit über Franz Grillparzer; 1972 erfolgte ihre Habilitation. Von 1982 bis 1997 wirkte sie als Titularprofessorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich.