Ein Schweizer in Vietnam

Was würde ich meinen vietnamesischen Besuchern in der Schweiz zeigen, um ihnen einen Eindruck dessen zu bieten, was meiner Meinung nach die Schweiz ausmacht? Klar will man sich von der besten Seite zeigen und führt seine Gäste nicht auf Autobahnraststätten, in Einkaufszentren oder durch Kehrichtverbrennungsanlagen. Oder unter Umständen vielleicht doch?

Vietnam, wie es sich jetzt zeigt, ist ein junges Land, stolz auf seine lange Geschichte, auf seine kaiserlichen Dynastien ebenso wie den scheinbar überwundenen Schmerz immens grausamer Auseinandersetzungen bis ins 20. Jahrhundert. Meine Erwartung, ich würde Ressentiments antreffen, zumindest den Aggressoren des 20. Jahrhunderts gegenüber, erwiesen sich als falsch. Davon spüre ich nichts, ganz im Gegenteil. Man eifert in fast allem westlichen Eigenschaften und Auswüchsen nach.

Vietnam ist ein Land der Gegensätze. Fährt man mit der Eisenbahn, die einst von der französischen Besatzungsmacht erbaut und den Norden mit dem Süden verbindet, ruckelt man an den Wohnstuben vorbei, direkt neben Müll und schwer behangenen Bananenbäumen, sieht Wasserbüffel, Krokodile und streunende Hunde, in der Ferne unberührte Strände und direkt neben der Eisenbahnstrecke riesige Waldgebiete, die von invasiven Pflanzen überwuchert sind.

So besuchte ich im Hinterland der ehemaligen Hauptstadt Huế ein von etwas mehr als einem Duzend buddhistischer Mönche gehegtes und gepflegtes Kloster, das nur über Schotterstrassen, Fusswege und eine kurze Überfahrt mit einer kleinen, lottrigen Fähre zu erreichen ist. Thiền Viện Trúc Lâm Bạch Mã strahlt stolze Ruhe aus, jeder Winkel eine Aufforderung zum Verweilen. Es gibt diese Orte, aber Vietnam scheint alles daran zu setzen, möglichst schnell zum touristischen Hotspot zu werden.

Im Hinterland der aus dem Boden gestampften Millionenstadt Đà Nẵng führt eine Strasse auf den «Berg des Grauens»! Sunworld nennt sich dieses Unding auf den Resten eines französischen Ferienressorts der ehemaligen Besatzer erbaut, hoch oben auf einem Berg. Ein vietnamesisches Disneyland mitten im Urwald. Ein Stück wummerndes Sodom und Gomorrah auf dem ein weisser Buddha wegschauen muss, mit Schweizer Equipment ausgerüstet, seien es Rolltreppen oder Gondelbahnen. Unser vietnamesischer Führer war ganz offensichtlich überzeugt, diese Errungenschaft perfekter Unterhaltung dem Schweizer als vietnamesisches Leuchtfeuer des Fortschritts anpreisen zu müssen, dem Besucher, der von sich selbst nicht denken soll, er wäre der einzige, der an einem Ort lebt, der die Brust schwellen lässt.

Vietnam tut alles, um nicht als Opfer der Geschichte gesehen zu werden. Man will Selbstbewusstsein demonstrieren, Aufbruch und gleichzeitig den Unterschied zum Nachbarn Thailand behaupten. Man sei offen und tolerant und der Buddhismus, Staatsreligion in Thailand, hier Überzeugung, erklärte der örtliche Begleiter. Religion ist allgegenwärtig und im Gegensatz zu den christlichen Religionen in der Schweiz nicht bloss Kulisse und Erinnerung an eine jahrhundertelange Tradition. Überall kräuseln die Kringel von Räucherstäbchen. Selbst einheimische Touristen verneigen sich und verharren einen Moment. Besuche in Tempeln und Pagoden aller Art sind nicht nur Besuche in architektonischen Sehenswürdigkeiten, sondern Vergnügen und Gebet in einem, auch wenn die inszenierten Felsen aus Sagex sind. Vielleicht ist die Religion genauso wie die Geschichte vor den Wirren der Kriege im zwanzigsten Jahrhundert ein Teil einer Selbstbehauptung.

Wie sich in grossen Städten Vietnams die nahe Zukunft nur schon verkehrstechnisch auswirken wird, ist mir rätselhaft, genauso wie die überstürzte Ausrichtung auf eine touristisch gewinnbringende Zukunft. Saigon erstickt im Verkehr, Huế buhlt um die Gunst solventer Besucher und in Đà Nẵng ragen riesige Bauleichen direkt am Strand gen Himmel.

So lecker das Essen, so genügsam die Menschen, so blau der Himmel und bunt der Markt; Vietnam bricht auf!

Beitragsfotos © Gallus Frei-Tomic