Vielleicht ist es eine der schwersten Aufgaben eines Lebens, sich der Wahrheit, den Wahrheiten zu stellen. Thomas und Karl, beide einst in der gleichen kleinen Schule im Dorf stellen sich ihren Wahrheiten in vollkommen gegensätzlicher Weise. Und dabei wird ein Dorf zu einem Schauplatz, der die Wahrheiten provoziert. Thomas, der fast ein ganzes Leben vor ihr floh. Karl, dessen Leben zu einem einzigen Kampf darum wird.
Thomas entfloh einst dem Dorf, hielt es nicht mehr aus, schälte sich aus dem scheinbaren Würgegriff und machte sich aus dem Staub. Weg vom Alp in seiner Familie, weg von den Ketten im Dorf, weg aus einem Geflecht von Erwartungen. Er tauchte ab in die Stadt, etablierte sich als gefragter Musikkritiker, bis ihn die alten Muster, gepaart mit Tablettensucht und Alkohol wieder von seinem Platz wegtrieben, zurück ins Dorf, das er einst hinter sich gelassen hatte. Thomas will Zeit, Klarheit und einen Weg weiter. Er weiss, dass es für ihn und seine Art des Schreibens bei den Tageszeitungen keinen Platz mehr gibt, dass er sich nicht nur beruflich neu orientieren muss, um zu überleben. Er richtet sich im Dorf, in dem er aufwuchs in einem kleinen Häuschen am Rand ein, einem Haus, das einst von Hippies bewohnt seit Jahrzehnten allein in einem wilden Garten sich selbst überlassen war.
Im gleichen Dorf lebt Karl. Scheinbar einer von der Sorte Mensch, denen der Looser in den Genen steckt. Karl wuchs beim Grossvater auf einem kleinen Hof auf, einem Hof, den er noch immer mehr schlecht als recht bewirtschaftet. Bei einem Grossvater, der ihm schon in Kindertagen die Härte des Lebens beibringen wollte. In einem Leben, in dem er höchstens von den Tieren im Stall den ungetrübten Blick, die unvoreingenommene Zuwendung geniessen konnte. In einem Dorf, das ihn gnadenlos zum Aussenseiter machte, obwohl seine Erscheinung, je älter er wurde, desto respekteinflössender war. In einem Körper gefangen, den er nie zu seinem eigenen werden lassen konnte. Provoziert von seiner Umwelt gerät er in die Mühlen der Justiz, ins Gefängnis, zurück an den mittlerweile verwaisten Hof, entschlossen in sich die Frau zu befreien, die im falschen Körper steckt. Ein Unterfangen, das in einem Dorf wie dem seinigen zum Spiessrutenlauf wird.
Dietmar Krug, selbst lange Zeit Mitarbeiter in Zeitungsredaktionen und Kolumnist, Meister der filigranen Beschreibungen, beschreibt die nach innen und aussen gerichteten Auseinandersetzungen der beiden Männer. Thomas stellt sich seinen Wahrheiten nicht, er, dem die Herzen der meisten Dorfbewohner offen stehen. Er schafft es auch nicht, das Grab seiner Mutter zu besuchen, das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Aber er beginnt in dem kleinen Haus, im Garten, den er mit den beiden Kaninchen eines Mädchens aus der Nachbarschaft, die er in Pflege nimmt, teilt, zu schreiben, zaghaft zuerst, dann immer tiefer, weil er weiss, dass im Schreiben der einzige Weg für ihn offen steht.
Karl hingegen, vom Dorf wegen seines kriminellen Vaters und seiner unglücklichen Kindheit und Jugend stigmatisiert, nimmt den Kampf auf, stellt sich nicht nur den Geistern, sondern knackt das Gefängnis, in dem sein Körper steckt. Nach unsäglich vielen verschämten Versuchen, eingetaucht in Heimlichkeiten und den Dunst von Alkohol, zelebriert er ungeniert seine Transsexualität.
Dietmar Krug bettet die Geschichten in ein Dorf, in ein feines Geflecht, von Menschen, die sich ganz unterschiedlichen Dämonen zu stellen haben, in ein Dorf, das wie viele andere von den Verschiebungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrissen wird. Ein junges Mädchen erklärt Thomas in die „Die Buntheit der Krähen“, dass die schwarzen Vögel eigentlich zu den Singvögeln gehören und ihr Federkleid nur für den oberflächlichen Betrachter schwarz ist. Wer genau schaut, sieht, dass das Federkleid in allen Farben schimmert – und selten etwas ist, wie es scheint.
Der neue Roman Dietmar Krugs entwickelt einen ungemein leisen Sog. Eine der vielen Überraschungen des Lesens sind die Beschreibungen von Tieren und Klängen. Etwas, was ich in dieser Intensität nur ganz selten antreffe. Beschreibungen, die dem Buch das schenken, was die Qualität der Protagonisten ausmacht; eine Wahrnehmung, die der Wahrheit unweigerlich an die Oberfläche hilft. Ein ganz besonderer Lesegenuss.
Interview mit Dietmar Krug:
„Ich kann nicht weitermachen wie bisher“, sagen beide, Thomas und Karl, jeder auf seine Weise. Warum muss ganz offensichtlich das Leiden stets existenziell werden, bis man sich an einen Richtungswechsel macht? Sowohl der ganz persönliche wie der globale! Erst wenn es offensichtlich um Kopf und Kragen geht, beginnt das Galoppieren auf den Abgrund zögerlich zu werden?
Der Klimawandel ist ein gutes globales Beispiel: Er ist jetzt plötzlich keine graue Theorie mehr, seitdem man an der eigenen Haut fühlen kann, dass es wärmer wird. Dann greifen auf einmal die eingebildeten Motive und Scheinrationalitäten nicht mehr. Der Mensch muss die Dinge offenbar regelrecht an Kopf und Kragen, das heisst körperlich, spüren, bis er sie im wörtlichen Sinn „begreifen“ kann. Dann erst geht’s ans „Eingemachte“.
Wenn es für Thomas und Karl existenziell wird, offenbart sich womöglich, worauf ihre Existenz eigentlich beruht.
Es reizt mich, Figuren in solchen Grenzsituationen zu schildern. Das bietet die Chance, sich dem anzunähern, was den Menschen im Innersten ausmacht, seinen Abgründen und Ängsten, aber auch seinen tiefsten Sehnsüchten.
Die Borniertheit in ihren vielfältigsten Schattierungen scheint in ihrem Roman ein fast ausschliesslich männliches Problem zu sein. Es sind die Frauen, Mädchen, die aufbrechen und provozieren, selbst bei Karl, der im Laufe des Romans zu einer Frau wird, zu „Sissi“, sich einen Namen gibt, der sinnbildlich erscheint für den Ausbruch aus einem Korsett. Schält sich die Gesellschaft aus einer männlichen Umklammerung? Oder zerfällt das eine Klischee einfach zu einem neuen?
Borniertheit ist gewiss kein exklusiv männliches Phänomen. Aber wenn ein Ausnahmezustand auftritt, ein Bedrohungsszenario, gleich, ob echt oder eingebildet, dann sind stets die Männer an vorderster Front zur Stelle. Und dann liegt allzu rasch Gewalt in der Luft. Die Kasernen und Hochsicherheitstrakte der Welt sind nicht ohne Grund vor allem von Männern besetzt. In meinem Roman sind es in erster Linie die männlichen Dorfbewohner, die dem Wahn verfallen sind, ihr Dorf gegen die vermeintliche Bedrohung durch alles Fremde und Fremdländische verteidigen zu müssen. Das dafür nötige Ausblenden von sozialen und zivilisierten Regungen ist meinen weiblichen Figuren allein schon deshalb unmöglich, weil ihr mitfühlender Sinn durch ihr Lebensschicksal ungewöhnlich stark ist. Die eine (Agnes) hat ein schwer krankes Kind, die andere (Karin) ist für einen psychisch kranken Bruder verantwortlich. Aber es gibt ja auch noch Thomas› Tante Klara, die das, was sie für Mutterliebe hält, durchaus mit dem Soldatentum ihres Sohnes in Einklang bringen kann.
Geschechtsdysphorie (Geschlechtsidentitätsstörung) ist keine Krankheit, auch wenn der Begriff wie eine tönt. Karl leidet darunter, selbst als sie, als Sissi. Leidet die Gesellschaft darunter, dass sich das Menschsein nicht immer bloss einteilen lässt in das eine oder das andere; Frau oder Mann, richtig oder falsch, rechts oder links, Wahrheit oder Lüge? Wärs nicht an der Zeit, dass man schon den Kindern die Buntheit der Krähen erklärt?
Da berühren Sie einen wunden Punkt, der im Grunde die derzeitige medizinische Praxis in Erklärungsnot bringt. Denn auf der einen Seite gibt man sich dort inzwischen überaus aufgeklärt und betrachtet das Phänomen der Transsexualität nicht mehr als Krankheit, ja nicht einmal mehr als Störung. Andererseits bietet man den Betroffenen hoch wirksame Medikamente und radikale chirurgische Eingriffe an, die sonst nur bei schwer kranken Menschen zum Einsatz kommen. Und noch ein Paradox: Auf der einen Seite weist man immer öfter darauf hin, dass die Geschlechtergrenzen fliessend sind. Andererseits stellt man die Eindeutigkeit der Polaritäten am Ende ja gerade dadurch wieder her, dass man mit hormonellen und chirurgischen Mitteln aus einem Mann eine Frau macht – oder umgekehrt. Meine Utopie wäre eine Welt, in der Menschen mit fliessendem Geschlechtsempfinden sein können, was sie sind, und die Medizin gar nicht mehr nötig hätten.
Thomas Mutter war keine aus dem Dorf. Eine Fremde, eine aus dem Balkan, eine, die verstummte. Eine, die es nicht schaffte, sich von einem Alp zu befreien, die sich nie herauswinden konnte aus dem Korsett, das ihr den Atem stahl. Irgendwann kann Schweigen zu einer Mauer werden, die sich nicht mehr einreissen lässt. Fehlte ihr die Sprache?
Ja, sie hat ihre Sprache eingebüsst, ihr Sprachverlust ist im Grunde ein Vertrauensverlust. Ihr Bruder war der einzige Mensch, an den sie sich in ihrer kindlichen Not wenden konnte. Als er sich grob von ihr abwandte, gab es niemanden mehr, den ihre Worte erreicht hätten. Selbst die spätere Liebe und Fürsorge ihres Mannes hat die Mauer des Schweigens nicht mehr überwinden können. Und doch hat sie mit ihrem Sohn eine eigene, ganz und gar andere Sprache entwickelt – im Reich der Musik und in der Welt der Klänge. Hier haben die beiden eine tiefe Verbindung zueinander und können sich Dinge mitteilen, für die es sonst keine Worte gäbe.
Thomas sitzt in dem kleinen Haus oder im Garten und schreibt. Er tippt in seinen Laptop. Und immer wieder erscheint auf dem Bildschirm «speichern, verwerfen, abbrechen». So wie beim Schreiben ist es doch wie im Leben, mit allem, jedem Bild, jedem Erlebnis. Oder bilden wir uns nur ein, wir könnten selbst entscheiden?
Als Thomas versucht, einige Erinnerungen und prägende Erlebnisse aufzuschreiben, scheitert er jedes Mal buchstäblich daran, das Notierte auf dem Computer zu speichern, dem „Dokument“ einen Namen zu geben. Diesem Zwang, sich entscheiden zu müssen, ist er nicht gewachsen. Das ist sicher symptomatisch für seine innere Flüchtigkeit und Getriebenheit. (Vielleicht hätte Thomas sich ja leichter getan, wenn er beim Speichern dem Dokument anstelle eines Namens einen Klang hätte geben können.) Andererseits: Gibt es etwas Schwierigeres, als einem eindringlichen Erlebnis einen passenden Namen zu geben, es mit einem Wort zu erfassen, das seinen wahren emotionalen Gehalt trifft? Hier hat mich nicht zuletzt das Phänomen gereizt, meinen Protagonisten seine intimsten Erinnerungen aufschreiben zu lassen, nur um sie dann wieder zu löschen. Und doch stehen sie da, zumindest in meinem Buch.
Dietmar Krug, geboren 1963 im Rheinland, studierte in Aachen und Wien Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er promovierte 1996 über Thomas Mann. Seit 1988 lebt Krug in Wien, war dort zunächst freier Verlagslektor, bevor er 2004 in den Journalismus wechselte. Als Autor, Kolumnist und Redakteur hat er für diverse Medien gearbeitet, u. a. «Die Zeit», «Die Presse», «Der Standard». Zuletzt erschienen bei Otto Müller die Romane «Rissspuren» (2015) und «Die Verwechslung» (2018).
Beitragsbild (Ausschnitt) © Sandra Kottonau