Wie gut, dass es in Zeiten globaler Krisen Gelegenheiten wie die Solothurner Literaturtage gibt, die in konstruktiver Weise versuchen, vieles von dem zu spiegeln, was Grund genug gäbe, an den gegenwärtigen Tatsachen und ihrer Wirkungen zu verzweifeln. Wie noch nie strömten Besucherinnen und Besucher, als wäre jedem bewusst, wie schmal der Grat geworden ist.
Die Solothurner Literaturtage sind das Flaggschiff im nationalen Literaturbetrieb. Als solches von beachtlicher Grösse und mit viel Masse und Wasserverdrängung. Kein Wunder, wenn der eine Kapitän von Bord geht, dass es zuweilen vernünftig ist, diesen schweren Kahn unter eine furchtlose Doppelleitung zu stellen. Nathalie Widmer und Rico Engesser, beide noch lange nicht so alt wie das Festival selbst, müssen bestehen im Spagat zwischen den Erwartungen jener, die Tradition und Beständigkeit hochhalten und anderen, die dem in die Jahre gekommenen Schiff am liebsten mehr als nur neue Segel setzen wollen.
Aber ganz offensichtlich goutiert man der neuen Leitung den guten Mix zwischen modernem Gesicht und reifer Haltung. Schon am ersten Tag wurden die Veranstaltungen förmlich überrannt. Lange Schlangen bildeten sich vor den Eingängen und Interessierte mussten freundlich weggewiesen werden, weil jeder mögliche Sitzplatz besetzt war. Der Dichter und Schriftsteller Andreas Neeser meinte im Vorfeld seiner Lyriklesung, es würden sich wohl nur eine Handvoll Interessierter an seiner Lesung finden, weil gleichzeitig Kim de L’Horizon im grossen Landhaussaal las. Weit gefehlt. Klar, die Schlange vor dem Landhaussaal war überwältigend. Aber genauso jene, die sich vor dem Einlass zur Lesung von Andreas Neeser formierte. Und als der Dichter dann las, die Stimmung von raunender Erwartung in andächtige Stille überging, war das Sprachglück fast mit Händen zu greifen. So wie sich Neesers Gedichte den Konventionen entziehen, ohne mich zu brüskieren, so schafft es das Festival immer wieder zwischen Tradition und Zeitgeist Brücken zu schlagen.
Das Festival zählt 45 Lenze. Ich mag den neuen Anstrich, die motivierte Crew und die zurückhaltenden Steuerleute, die das «Festivalgeschäft» schon jahrzehntelang kennen und es bestens verstehen, die verschiedensten Strömungen unter die gleiche Takelage zu bringen.
So wie beispielhaft die 25jährige Newcomerin Mina Hava mit ihrem Debütroman «Für Seka» und der 80jährige Routinier, das literarisches Urgestein Christian Haller mit seiner Novelle «Sich lichtende Nebel».
Mina Hava schrieb sich mit ihrem Roman «Für Seka» in eine tiefe Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft Bosnien, dem Ort Omarska, der es im Krieg in den 90er Jahren nie in ein kollektives Bewusstsein schaffte, obwohl die Gräuel, die der Krieg in und um jenes Gefangenenlager anrichtete eine Wunde klaffen lässt, die bis heute weit weg von einer historischen Aufarbeitung steht. Was damals in Srebrenica vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschah, ritzte sich ins kollektive Bewusstsein. Was in Omarska passierte, begegnete selbst der Autorin, deren Familie ganz in der Nähe lebt, erst im Laufe ihrer Recherchen zu ihrer Herkunft. Omarska, ein Konzentrationslager damals, noch heute eine Mine, in der gnadenlos ausgenutzt wird, was Menschenkraft und Natur hergibt. Omarska, ein Schreckensort ohne Denkmal, wo man alles andere als interessiert ist, die Leichen in Massengräbern mit ihren Geschichten zu Tage zu bringen.
«Für Seka» ist nicht einfach Geschichte, die erzählt wird, sondern ein literarischer Zettelkasten genau jener Recherchen, mit denen Mina Hava in Rückblenden in verschiedene Vergangenheiten taucht. Auch eine Auseinandersetzung zwischen Bosnien und der Schweiz, ihre eigenen Geschichte, die sich in der Schweiz nicht «abgebildet» findet. Einmal mehr auch eine Auseinandersetzung mit dem verklärten Begriff der «Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen».
Oder Christian Haller, der heuer seinen 80. Geburtstag feierte und längst zu den ganz Grossen der Schweizer Literatur gehört. Ob als Romancier, Lyriker oder mit seiner kantigen Art auch als Essayist – er mischt sich in aktuelle gesellschaftliche Fragen, in seinem neusten Essay «Blitzgewitter», wie weit digitale Medien unser Leben nachhaltig verändern.
Auch sein neuestes Buch, die Novelle «Sich lichtende Nebel» beschäftig sich mit der Wahrnehmung, dem Irritierenden. «Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Geschichte darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit seiner Herkunft, seinem eigenen Leben auseinandersetzten, war der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zur Novelle wurde. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.
Mina Hava und Christian Haller stellen Fragen, Schicht für Schicht. Die beiden Bücher repräsentieren das Suchen nach Antworten. Beide in reifer Distanz und doch so verschieden in der Überzeugung, was Erzählen bewirken soll. Sie bricht auf – er ordnet.