Ein Hof und daneben ein Haus. Eine Familie mit ein paar Kindern und daneben eine ledig gebliebene Tante, die Schwester des Bauern. Was als Setting so gar keine Spektakel verspricht, wächst sich in Claudia Schreibers neuem Roman „Goldregenrausch“ zu einem veritablen Drama aus, in das ich als Leser so sehr einsteige, dass ich am liebsten Brandbeschleuniger hinzuschütten würde, um ein Schrecken ohne Ende abzuwehren.
Marie, das fünfte Kind der Bäuerin, flutscht. Ein ungewollter Nachzügler, ein Mädchen nach vier Rabauken, nachdem sich das Leben auf dem Feld, mit der Hacke in der Hand längst endgültig eingespielt hatte. Während die Bäuerin im Wochenbett das süsse Nichtstun geniesst und mit ihrem kräftigen Busen stillt, bringt sie ihr Arzt darauf, die überflüssige Muttermilch zu verkaufen. Interessierte verschiedenster Couleur gäbe es genug. Und so wird aus dem Wochenbett ein monatelanger, ärztlich abgesegneter Dauerzustand. Es fliesst Geld, viel Geld, von dem der Bauer keine Ahnung hat und das die Träume der Bäuerin beflügelt.
Aber kaum ist das nicht mehr länger aufrecht zu haltende Wiegenfest zu Ende, beginnt für die kleine Marie, das Mädchen, das noch nicht einmal spricht und noch in Windeln liegt, ein Leben im Abseits. Während die Eltern von morgens bis abends auf dem Feld rackern und die viel älteren Brüder die Schule und Umgebung verunsichern, parkiert man Marie in einem Laufstall, mit einer Flasche Milch und einer Flasche Wasser, überlässt sie dem Schicksal, im Sommer im Garten und im Winter in einem leeren Zimmer mit psychodelischer Tapete.
Bauer und Bäuerin erwarten von Greta, der Schwester des Bauern, die im kleinen Häuschen neben dem Hof Wohnrecht geniesst, keiner geregelten Arbeit nachgeht und eine begnadete Gärtnerin ist, dass sie sich um die kleine Marie kümmert. Aber Greta wurde nie gefragt, so wie sie im Leben nie gefragt wurde, wenn man über ihr Leben entschied. Der Bruder ist davon überzeugt, Greta sei zurückgeblieben, protzt in Gesellschaft, „der Vater habe nach Gretas Geburt versehentlich ihren Körper im Garten vergraben und statt dessen deren Nachgeburt grossgezogen“.
Aber irgendwann schafft es die kleine Marie, die gehärtete Seele ihrer Tante zu erweichen. Nicht durch Überzeugung, aber mit der Erkenntnis, es den Pflanzen gleichtun zu müssen, freundlich zu erblühen, selbst mit ganz wenig Wasser.
So entgleitet Marie immer mehr den herzlosen, abgestumpften Eltern. Selbst Arzt und Klerus können nichts bewegen. Zwischen Marie und Greta wächst eine Allianz der Verschmähten, zwei Vergessener. Marie, ganz im Stillen zum grossen Mädchen geworden, an den Eltern vorbei heimlich bis zum Abitur, findet allen Widrigkeiten zum Trotz den Zugang zur Welt. Zusammen mit ihrer Tante. Manchmal auch im Goldregenrausch, da die Tante sehr gut weiss, wie die heilende und tröstende Wirkung des Krauts einzusetzen ist.
In einer „Familie“, in der nur Arbeit und Erfolg zählt, in der Probleme mit flotten Sprüchen weggewischt werden, in der man sich am Feierabend zudröhnt, muss eine Frau wie Greta, die nie einer geregelten Arbeit nachging und trotz allem in ihrem Gleichgewicht nicht gestört werden kann, eine permanente Provokation. So sehr, dass die kleine Bühne von Hof und Nebenhaus Schauplatz eines Dramas wird, dass niemand aufzuhalten vermag. Am wenigsten ich Leser, der zurufen will: „Nimm endlich das Gift!“
Kein Kind verdient, wohin es geboren wird. Nicht die Kinder in Kriegsgebieten, nicht die Kinder in familiären Kriegsgebieten. Die Schäden und Traumas, die Kinder in ihr Erwachsensein schleppen, lassen sich untereinander nicht vergleichen und nicht einstufen. Schrecklich sind sie allemal. Und jeder, der in irgend einer Weise mit dem Schicksal solcher Kinder konfrontiert ist, weiss, wie schwierig es ist, Einfluss zu nehmen, etwas bewirken zu wollen. Wie schnell «elterliche Gewalt» zur existenzbedrohenden, realen, körperlichen und psychischen Gewalt werden kann.
Claudia Schreiber schreibt markig, unverblümt und direkt. Beschönigungen und Vorsicht liegen ihr nicht. Es lässt sich auch nicht verbergen, dass Männer in ihrer Geschichte alles andere als gut wegkommen. Marie und ihre Tante Greta sind einsame Kämpferinnen. Eine ganz junge und eine alte, die mit dem, was ihnen geblieben ist, den Kampf aufnehmen. Einen Kampf mit ungleichlangen Spiessen. Eine Kampf allerdings, der erst auf den letzten Seiten des Buches ausgetragen ist. Ein Kampf, bei dem man bei der Lektüre zum schweigenden Mitlesen gezwungen ist. Wahre Kraft verbirgt sich nicht hinter denen, die den Mund aufreissen. Und wer wie Greta den Menschen durch Enttäuschungen abgeschworen hat, mit der Natur, den Pflanzen und Tieren aber mehr als nur verbunden bleibt, dort ist auch die Liebe geblieben.
Ein in vieler Hinsicht starkes Buch von einer starken Frau über starke Frauen!
Claudia Schreiber wurde 1958 als das vierte von fünf Kindern geboren, die Eltern waren Landwirte, Obstbauern und später Konservenfabrikanten. Nach dem Studium wurde sie 1985 Redakteurin und Reporterin beim Südwestfunk Baden-Baden, später Redakteurin, Reporterin und Moderatorin beim Zweiten Deutschen Fernsehen Mainz, wo sie die Kinder-Nachrichtensendung logo! realisierte. 1992 begann – in Moskau – ihre Arbeit als Autorin, seit 1998 lebt und arbeitet Claudia Schreiber in Köln.
«Die Brautmutter» von Claudia Schreiber, eine Kurzgeschichte auf der «Plattform Gegenzauber»
Beitragsbild © Sandra Kottonau