Christoph Hein «Trutz», Suhrkamp

Christoph Heins neuer Roman „Trutz“ ist auf dem Schutzumschlag als „Jahrhundertroman“ angepriesen. Ist er das? Gemessen an der Zeitspanne, die der Roman beschreibt, mit Sicherheit. Aber auch sprachlich und in seiner Erzählweise? Christoph Hein, der seine ersten Werke noch in der DDR veröffentlichte, schrieb die Geschichte von Menschen, die der Sturm der Geschichte durch ein Jahrhundert peitscht. Er zeichnet ein Stück Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts von Norddeutschland über Berlin und Moskau bis ins tiefste Sibirien, das mir bewusst macht, wie sehr Wohlstand und politische Stabilität zur Selbstverständlichkeit wird. Geschichte rutscht aus dem Bewusstsein weg, erst recht heute, wo Ausblenden und Verleugnen zum politischen Programm werden kann.

Christoph Hein erzählt die Geschichte von Rainer Trutz und seinem Sohn Maykl, von Waldemar Gejm und dessen Sohn Rem, von Deutschland und Russland, in denen durch die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts kein Stein auf dem andern bleibt. Und von der Mnemotik, einer vergessenen Wissenschaft gegen das Vergessen.
Rainer Trutz entflieht der elterlichen Engstirnigkeit auf dem norddeutsche Hof ins von der Wirtschaftskrise gebeutelte Berlin, einer Stadt zwischen den Weltkriegen. Seine Hoffnungen, dort schnell eine Arbeit und einen Platz zu finden, verflüchtigen sich angesichts der grassiereden Armut und Arbeitslosigkeit. Erst durch einen Unfall, den „Zusammenstoss“ mit dem Auto einer jungen Frau, findet er einen Job als freier Mitarbeiter in Zeitungen und Zeitschriften, auch einen Platz im „Schwimmerbassin“ des „Romantischen Cafés“, wo sich die früheren Stammgäste des „Café Grössenwahn“ treffen; Schriftsteller, Maler, Journalisten, Schauspieler, Kreti und Pleti, Männlein und Weiblein der Berliner Szene. Und als dann auch noch sein erster Roman erscheint und er gemeinsam mit Gudrun eine kleine Wohnung bezieht, scheint er wider Erwarten schnell dem Ziel seiner Träume näher gekommen zu sein.
Aber Rainer stolpert. Ein erstes Mal mit seinem Roman, der seiner Frivolität wegen den moralischen Vorstellungen der aufstrebenden braunen Bewegung missfällt. Und sein zweiter Stolperer ist sein zweiter Roman, der in der Presse als „Wühlarbeit einer roten Ratte“ diffamiert wird. Rainer gerät unversehens zwischen die Fronten, muss fliehen, zuerst aus seiner Wohnung, später ganz aus Deutschland, mangels Alternativen ins sowjetische Moskau. Gudrun arbeitet nicht mehr als Gewerkschaftssekretärin, sondern an den Maschinen einer Schokoladenfabrik. Rainer mit seinen zwei linken Händen in der „Brigade Karl Marx“, die mit andern das Vorzeigeprojekt Metro in der sowjetischen Hauptstadt zu Ehren Stalins vorantreiben soll. Rainer überlebt die moskauer Jahre nur, weil er Wladimir Gejm kennenlernt, einen hochdekorierten Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft an der Lomonosow-Universität. Ein Gelehrter, der mit seiner Wissenschaft der Mnemotik, der Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung (Keine Erfindung des Autors!) Neuland betritt und darin Rainers Sohn Maykl und seinen eigenen Sohn Rem zu Probanden dieser neuen Technik macht. Zwei Familien wachsen zusammen. Für wenige Jahre bedeutet es das grosse Glück der beiden Kinder Maykl und Rem, die wie Brüder zueinander aufwachsen.
Aber die Mühlen der Geschichte drehen unberechenbar weiter. Manchmal ändert die Drehrichtung vollkommen. In den Wirren der verschiedenen russischen Säuberungsaktionen, in denen sich nicht nur Stalin, Generalsekretär und Diktator der Sowjetunion von scheinbaren Konkurrenten befreit und damit Tausende der Willkür und Denunziation zum Opfer fallen, wird auch Rainer Trutz wegen einer Buchbesprechung in seiner Berliner Zeit zu fünf Jahren Zwangsarbeit in einem sibirischen Lager verurteilt. Ebenso Professor Gejm, dessen Lehrstuhl aufgelöst, alle Manuskripte und Unterlagen vernichtet werden, um ihn zuerst in die Garderobe eines Moskauer Theaters und später in eine Besserungsanstalt, wo er Bäume fällen soll.
Familien werden auseinandergerissen, Leben zerbrochen. Christoph Hein erzählt das Panorama zweier Familien über fast hundert Jahre. Eine Geschichte, von der Christoph Hein vor dem ersten Kapitel erklärt: „In diesen Roman geriet ich aus Versehen, oder viel mehr durch Bequemlichkeit.“ Eine Geschichte, die erzählt werden musste!
Ein Buch, das ich atemlos bis zur letzten Seite las. Ein Buch, das mich bewegt, wie alle Bücher des grossen Autors, der erst im Jahr 2016 mit „Glückskind mit Vater“ (ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen) bei Suhrkamp einen tief beeindruckenden Roman veröffentlichte. Christoph Hein fesselt jene genauso, die nach historischen Stoffen dürsten, wie jene, die sich gerne über grosse Erzählbögen von Geschichten mitreissen lassen. Ich spüre Christoph Heins Pflicht, sich mit den Wirrungen der unmittelbaren Geschichte auseinanderzusetzen, mit Verantwortung für die Gegenwart, ohne dass er mit einem Mahnfinger drohen muss.
„Trutz“ ist grosse deutsche Literatur!

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle „Der fremde Freund / Drachenblut“.
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.