Felix Degalier studiert in Lausanne Medizin, nachdem er zu seiner kranken Mutter gezogen war. Lausanne ist ihm fremd, genauso die Sprache. Er kennt sich zwar aus und spricht französisch, doch der Mann scheint über Monate nie dort anzukommen, wo er sich eigentlich bewegt. «Die verschobene Stadt» ist eine Lebensspur, die sich beinahe verliert. Der Roman ein zartes Stück Sprache, das anderes will als «bloss» erzählen.
Es ist bei der Lektüre, als würde man dem Boden enthoben. Es ist kein Wegreissen, kein Hinfallen, kein Abheben, kein Wegdriften. Was als Geschichte erzählbar ist, wird nicht von aussen geschildert, sondern von innen. Mir erzählt Christian Zehnder von Felix Degalier, von Luc, Helena und Geneviève, von den Mietern mit ihrem kränklichen Kind, die sich in der ehemalige Wohnung der Mutter einnisten – und doch liegt der Erzählmittelpunkt, der Fluchtpunkt der Erzählperspektive in der getriebenen Seele von Felix.
Felix wohnt mit Luc zusammen in dessen Wohnung, aber nicht wirklich zusammen, denn die beiden treffen sich je länger je weniger. Felix studiert Medizin, aber nicht wirklich, denn alles andere scheint ihn und sein Leben zu bewegen, nur sein Studium nicht. Felix lebt, existiert in Lausanne, der Universitätsstadt am Lac Léman, aber nicht wirklich, denn phasenweise entzieht sich ihm die Stadt, entgleitet ihm, verschiebt sich, wird ihm fremd.
Obwohl chronologisch konstruiert, erzählt der Autor alles andere als linear. Sprunghaft, manchmal assoziativ, als würde er nicht erzählen wollen, sondern schildern, was die sprunghafte, unstete Wahrnehmung mit dem Protagonisten macht.
Nachdem Felix Degalier weg von Zürich zu seiner Mutter nach Lausanne gezogen war, diese zuerst pflegte, vermietet er die Wohnung nach deren Tod fast vollständig möbliert einer jungen Familie. So wie die Möbel in dieser Wohnung nach dem Tad seiner Mutter stehen bleiben, als wäre sie eben erst weggegangen, bleibt die Bindung, die Verbundenheit zu einer Welt, die mit der Mutter gestorben war. Felix wird zu viel mehr als einem Vermieter, angebunden an eine Familie, die ihn durch ein krankes Kind regelrecht einspannt.
«Die verschobene Stadt» macht es mir nicht leicht. Ein Buch, das mich pendeln lässt zwischen Faszination, vor allem für die Sprache, und Verunsicherung dann, wenn ich mich losgelassen fühle. So wie Felix in einer Stadt, einer Welt, unter Menschen, die ihn nicht einlassen. Schon «Julius», sein 2011 bei dtv erschienener Roman, war die Geschichte eines jungen Mannes, der von einem alten Leben Abschied nimmt und in einem neuen nicht richtig anzukommen scheint.
Wer sich auf ein sprachliches Abenteuer einlassen will, der liest «Die verschobene Stadt»! Flimmernd, durchscheinend und traumhaft.
Christian Zehnder, geboren 1983 in Bern, studierte Literatur und Philosophie in Fribourg und München. Er ist Mitarbeiter am Institut für Slawistik der Universität Fribourg. Nach Studienaufenthalten in Sankt Petersburg, Moskau, Warschau und zuletzt in Chicago lebt er heute in Bern. Bisher erschienen sind von ihm die Erzählungen und Romane «Gustavs Traum», «Julius» und «Die Welt nach dem Kino». «Die verschobene Stadt» ist sein erstes Buch im Otto Müller Verlag.
Beitragsbild © Sandra Kottonau