Irgendwo in den Bergen liegt ein Dorf an einem Fluss, ein Brückendorf. Irgendwann in der Zukunft spielt die Geschichte eines Schlüsselmachers und seines Sohnes, nicht die Geschichte einer Liebe, sondern des gegenseitigen Misstrauens. China Miéville, ein Engländer aus Norwich, schrieb einen Roman zwischen Traum und Wirklichkeit, eine Geschichte aus einer anderen, fremden Zeit. Eine Geschichte in starken, dunklen, ungeheuren Bildern.
Ich lese kaum Fantasy Romane, mag das Abgewandte von der Realität nicht. Vor einigen Jahren waren es höchstens die Romane von Patrick Rothfuss, die mir ein Freund zu lesen empfahl. Aber auch jene entführten mich in eine mir fremde Unwirklichkeit. China Miéville schreibt aber nicht die Sorte Romane. Sie spielen nicht in weltfremden Ländern, vergessenen Zeiten. Es gibt keine Zwerge, Zauberer, Orks und Elfen. «Dieser Volkszähler» erzählt eine Geschichte in unbestimmter Zukunft, in einer Zeit, in der sich vieles von der Gegenwart unterscheidet, unsere Gegenwart kaum noch eine Erinnerung ist, vieles vergessen scheint. Ein Mann, von Beruf Schlüsselmacher, lebt mit seiner Frau und seinem Sohn hoch über dem Brückendorf weit ab in einem Haus am Hang. Man sucht den Schlüsselmacher auf, bittet um ganz spezielle Schlüssel, die der Handwerker in seiner Werkstatt im Erdgeschoss seines Hauses fertigt. Schlüssel, die nicht unbedingt Türen öffnen sollen. «Seine Kunden kamen aus dem Dorf zu ihm hinauf und baten um Dinge, um die Menschen üblicherweise bitten; um Liebe, Geld, darum, etwas zu öffnen, die Zukunft zu erfahren, Tiere zu heilen, Sachen zu reparieren, stärker zu werden, jemanden zu verletzen oder zu retten, zu fliegen -, und er machte ihnen einen Schlüssel dafür.»
Die Mutter ist still, der Vater noch mehr, das Dorf weit weg, Besucher selten, Besuch in der Stadt um Fluss auch. Bis der Sohn eines Tages in einem Alp aus Angst und Schrecken hinunter ins Dorf flüchtet und schluchzt, sein Vater habe seine Mutter im Streit erschlagen. Für eine Weile bleibt der Junge im Ort, bei den Kindern ohne Eltern, geführt vom grossen Mädchen Somma, den Kindern, die in Ruinen hausen, den Brückenkindern, die Fledermäuse fangen und essen.
Die Geschichte spitzt sich zu, ungemein atmosphärisch erzählt, bis dieser Volkszähler zu klären versucht, was dem Jungen unerklärbar bleiben wird. Der Junge muss zurück zu seinem Vater, einem Mann, dem er zu tiefst misstraut, der seine Einsamkeit noch viel grösser werden lässt. Ein Roman wie ein Traum, schlafwandlerisch erzählt. Während ich las, stiegen Bilder auf, die sich wie düstere, in dunkles Licht getauchte Theaterkulissen in meine Erinnerung brannten.
China Miéville schreibt Fantasy anders. Auch viel konzentrierter, denn seine Novelle hat gerade einmal 172 Seiten. Im Gegensatz zu den meist episch angelegten Fantasy-Wälzern, die einem am liebsten nie mehr entlassen würden.
China Miéville, 1972 in Norwich geboren, gilt als einer der wichtigsten Autoren der zeitgenössischen Fantastik. Er studierte Sozialanthropologie in Cambridge und Politikwissenschaft an der London School of Economics. Sein Debütroman «König Ratte» erschien 1998. Für seinen Roman «Perdido Street Station» erhielt er 2001 den Arthur C. Clarke Award sowie den British Fantasy Award. Mit seinem Roman «Die Stadt & Die Stadt» gewann er 2010 neben dem Arthur C. Clarke Award auch den Hugo Award und den World Fantasy Award. In Deutschland wurde er drei Mal mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. China Miéville kandidierte 2001 für die Internationale Sozialistische Allianz bei den britischen Unterhauswahlen, bis 2013 war er aktives Mitglied der Socialist Workers Party. Er lebt und arbeitet in London.
Bild: Sandra Kottonau