Boris Hoge-Benteler „Klosterberg“ (Romanbeginn), Plattform Gegenzauber

1.

Gartenhaus

Hagebutten und Kastanien auf dem Schreibblock schweben, von oben fotografiert, über dem linienlosen Weiß. Der Kopf. Sein Hängen. Das Klicken des Kugelschreibers.

 

Flur

Der Tunnel ist mir fremd, und ich habe Angst. Nicht aber, dass ich allein bin, ängstigt mich, nicht die vielen nur vage auszumachenden, geschlossenen Türen zu beiden Seiten, nicht die Unkenntnis dessen, was sich hinter ihnen wohl befinden mag, auch nicht die Abwesenheit meiner Schritte auf dem lautlosen Teppich, sondern allein, in diesem Augenblick, der Umstand, dass hinten, ganz weit hinten eine Tür sich öffnet und wieder schließt zu einem Licht, das mich auffordert, ja zwingt, nicht stehenzubleiben und immer weiter darauf zuzugehen.

Nur darum drossele ich meinen Gang, tausche Neugierde und düstere Erwartung ein gegen Achtsamkeit, spüre meine Füße in den Socken, in den Schuhen, die Sohlen auf dem Teppich, das Abrollen der Ferse erst links und dann rechts und wieder links und wieder rechts, spüre meine Hände in den Seitentaschen meiner Jeans, mit der einen ein Feuerzeug umfassend, mit der anderen einen glatten, nicht ganz runden Stein, spüre ein leichtes Jucken an drei Stellen meiner Kopfhaut, einen leicht bitteren Geschmack auf der Zunge, aufsteigende Luft im Magen, ein nervöses Drücken im Darm. Und obwohl das alles nicht angenehm ist, versuche ich, es mir einzuprägen und es zu bewahren, während der Tunnel mich dunkel umgibt und das Licht dort hinten immer kleiner wird und sich immer weiter, mich an sich ziehend und mich nicht loslassend, von mir entfernt.

 

Fahrt

Alle Erwartung frisst sich zurück in meinen Bauch, und ich wende, mit bereits geschlossenen Augen, den Blick ab, den ersten und anhaltenden durch das Fenster hinter dem Schreibtisch, wende ihn ab von den Ställen und der Schmiede, der Wiese, dem Zaun, dem Rest einer Mauer. Ich verstaue das Schreibzeug, den Walkman, alles Umherliegende in Tasche und Rucksack, streife die Jacke über, streiche erneut und erstmalig mit der Hand über den blassgelben und beigen Frotteebezug des Kopfkissens und der Decke, sauge den Geruch nach starkem Waschmittel ein und nach kaltem Staub, sauge den blaugrauen Teppichblick ein, den Blick auf Furnierholz, die Schublade des Nachttischs, das Milchglas der Lampe, das Kreuz darüber, sauge das alles, kaum wurde es vor mir ausgeschüttet, ein, denn nichts soll zurückbleiben, alles sei rückwärtig, bis sie mir übergehen, Augen und Hirn, und ich das Zimmer verlasse, den Flur, die Wohnung, das Treppenhaus mit den hölzernen, nicht endenden, ächzenden Stufen.

Draußen schiebe ich meine Sachen auf den Rücksitz des Wagens, schließe alle Türen, auch den Kofferraum, steige ein, starte und fahre los, im Rückwärtsgang, den schmalen Weg entlang durch den Garten und den Park mit seinen Gemüse- und Blumenbeeten und alten Bäumen, vielleicht sind es Linden, vielleicht auch Kastanien, rolle vorbei an Schmiede und Töpferei, einem Seiteneingang, einem geparkten dunkelblauen VW Golf, passiere rechts das sich jäh und wie von selbst öffnende Eisentor, passiere die verlassene Pforte, die lange weiße Frontseite des Klosters, das rotgeklinkerte Gästehaus, den Parkplatz, die Obstwiesen, die Schule, rolle weiter zurück bis zur Kreuzung, biege nach links ab, schaue auf das Gelb einer Telefonzelle, auf die bunten Auslagen eines Kiosks, nehme den Fuß von der Bremse, gebe Gas und schlängele mich über etliche Kurven den Berg hinab. Fahre den Klosterberg hinab. Bewege mich dabei rückwärts und verschwinde, den Blick wiederum auf Gelb, doch diesmal des Ortsschildes, gerichtet, in einem Wald, einem dunklen Tannenwald, auf den nach langer Zeit braune Äcker folgen, dann wieder ein Wald, Hügel mit grauen Stoppelfeldern, Wald und wiederum Hügel, die Straße in Schlangenlinien den Fluss entlang und irgendwo dort hinten, jenseits des Tales und steil herauf, in schwindender Ferne, mir schwanend: das Dorf und das HAUS.

Ich stelle jetzt, Pauls Wunsch gemäß, vieles vor mich hin, als käme es einer Sichtung gleich, bedenke die Zeit und ihre Lügen, unzählbare Versuche, mir weißzumachen, dass sie vergehe.

Ich entkomme nicht und komme auch nie an. Und unterwegs werde ich mich nicht verlieren im schönen Detail. Denn das schöne Detail ist nicht schön, und ich verliere mich nicht in, sondern ich kralle mich fest an ihm.

 

Flur

Ich stehe vor einer hellen Tür und weiß nicht, ob ich sie öffnen soll. Das Tageslicht, das für mich ganz plötzlich von außen durch die obere und untere Glasscheibe dringt, sorgt dafür, dass ich abrupt die Augen schließe und sie nur zögerlich und blinzelnd wieder öffne. Hinter mir weiß ich einen langen dunklen Flur, dessen Ausgangspunkt mir in diesem Augenblick entfallen ist.

Ich habe Angst in beide Richtungen.

Die Tür hat, glaube ich, im Gegenlicht einen sehr dunkelgrünen Rahmen.

Wenn ich wüsste, ob und hinter welcher der vielen abgehenden Türen in meinem Rücken sich ein Ort des Unterschlupfs befindet, vielleicht ein dunkler und enger Wäsche- oder Putzraum, eine Dusche oder eine Toilette, würde ich mich, vielleicht, jetzt, in diesem Augenblick, umdrehen, um ihn aufzusuchen. Mich einzuschließen in einer der Kabinen. Vielleicht auch zwischen den Eimern und Geräten einer Abstellkammer. Um Zeit zu gewinnen.

Die Tür verfügt über einen Stoßgriff, rechteckig, aus schwarzem Kunststoff. Keine Klinke. Zum Aufschieben oder  ziehen, je nachdem. Sie ist nicht verschlossen. Sie führt nach draußen, kein Zweifel.

Wie mit der Nase eines Kindes am Glas mit Blick von drinnen nach draußen: Dort sitzen und bewegen sich große Menschen, wie viele, ist von hier aus nicht zu erkennen. Etwas trübt die Sicht, Nebel oder Rauch. Akustisches nehme ich nicht wahr.

Welche Art des Öffnens, frage ich mich, wäre das, öffnete ich die Tür ganz langsam oder versuchte ich, sie aufzustoßen, ruckartig, und welchen Ausmaßes wäre dieses Öffnen, und was würde sein, und was würde folgen.

Ich umfasse den Griff, gebe mir einen Ruck: der allerdings nicht oder nur halb nach vorn, nach draußen, sondern zugleich nach hinten losgeht, ins Dunkle, wo ich mich rasch verkrieche, in irgendeiner Ecke, fort bin und unauffindbar, während ich im selben Augenblick und etwas ungelenk nach vorne kippe und mich und einen nicht leicht zu bestimmenden Teil von mir wiederfinde am Ein- oder Ausgang eines Hofes.

 

Kabine

Ich sitze im Dunkeln und gehe davon aus, dass ohne Licht die Zeit nicht vergeht. Dass sie anhebt und vergeht, nur wenn es hell ist.

Wenn ich an die Fahrt denke, dann nur an ein stehendes Bild, vielleicht auch mehrere, aber immer stehend. Dass keine Gefahr ausgehe von ihnen.

Was, frage ich mich, werde ich tun, wenn jemand kommt und das Licht anschaltet? Mich auf keinen Fall räuspern, nur nichts zu erkennen geben, nichts, das sich zurückverfolgen, sich einfordern ließe. Ich werde die Luft anhalten, den Herzschlag herunterfahren, mir die Fluchtwege vor Augen führen, auch das Heimweh verdrängen, es mir verbieten, wonach auch. Nur im Dunkeln entfällt die Frage, in welche Richtung ich denken oder schauen und mich bewegen werde.

Doch wenn das Licht angeht, seltsam, wird Paul dann denken, dass die Tür der Kabine verschlossen ist. Dann wird er wissen, was los ist, was ich getan habe, wird, nur kurz und ohne sie nach unten zu drücken, die Hand auf die Klinke legen, wieder heben, mit den Fingernägeln fast und doch nicht, aber fast schon hörbar, über die glatte Furnierschicht der Tür streichen, um sich dann, mit leichtem Rauschen, wieder zu entfernen. Das Licht zu löschen. Und seine Schritte auf dem Teppich des Flures und die Richtung seines Fortgehens werden nicht mehr auszumachen sein.

Oft, denke ich, wird von jetzt an diese Kabine der Ort meines Rückzugs sein.

 

Hof

Als wäre ich, gerade jetzt, an einem trüben Tag und in fremder Umgebung aufgewacht. Es ist weniger hell, als es der Übergang von Schlaf zu Nichtschlaf vermuten ließ. Ein kühler, etwas milchiger Nachmittag ist dies. Rauch und Nebel weiten die Grundfläche des Hofes, die in vermeintlicher Ferne eingefasst scheint von einer vage verlaufenden, in blassem Rot sich verlierenden Mauer.

Die Welt ringsum ist nicht vorhanden, innerhalb der Mauer jedoch nehme ich gleichzeitig Verschiedenes wahr: vorne einen Grill, qualmend, darauf graue, braune oder geschwärzte Würstchen, zwei Bierkisten, einige Flaschen Cola, Becher, zwei Bierbänke und einen Tisch.

Die Personen zu zählen, liegt mir jetzt fern, es scheinen viele, aber mir fällt auf, dass sie alle Jacken tragen und dass doppelt so viele Augen sich jetzt, womöglich, auf mich richten und mir zu sagen scheinen: Jetzt musst du etwas tun oder etwas sagen. Noch stehe ich abseits, aus Scham, dass sie mich sehen, doch schon höre ich eine Stimme, die ich kenne, dann sehe ich ihn auch: Bruder Paul.

„Da bist du ja.“ Und prompt werden mir, viel zu schnell, die vorgestellt, denen ich zugeordnet werde, die mich einarbeiten und von nun an begleiten sollen, es sind vier: Tom, Liv, Chris und Ka.

Dann sitze ich etwas krumm auf einer der Bänke, eine Bierflasche in der Hand, zwischen ihnen. Das Bier macht die unruhigen Hände, macht den nervösen Magen kalt. Stimmen erfasse ich, doch keine Worte. Paul befindet sich nicht weit von mir. Von oben ragt der Ast irgendeines Baumes ins Bild, das hin und wieder flackert, wie unentschieden zwischen Farbig und Schwarzweiß.

„Vergiss nicht“, höre ich ihn durch das Blättergewirr und die Stimmen der anderen hindurch zu mir sagen, „morgen, um halb acht.“

 

(Der Roman „Klosterberg“ erscheint im Herbst 2025.)

Boris Hoge-Benteler „Liebe Dunkelheit. Briefroman“, kul-ja! publishing 2023, 304 Seiten, ISBN: 978-3-949260-13-1

Boris Hoge-Benteler, geboren 1979 in Marburg, aufgewachsen in Büren (Westf.), studierte Neuere deutsche Literatur, Italienisch und Geschichte in Berlin und Wien und promovierte in Münster über Russland-Konstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Er arbeitet als wissenschaftlicher Bibliothekar in Jena und lebt in Weimar. 2022 erschien sein Debütroman „Sonnenstadt“, 2023 folgte sein Briefroman „Liebe Dunkelheit“.

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Beitragsbild © Miriam Benteler