Arno Dahmer «Die Nüchternheit der Nullerjahre», ein Kapitel

1. Januar 2019, 10.00 Uhr

Was mag die Essenz des Felskletterns sein? Wenn ich die gesamte Zeit bilanziere, von 1994 bis heute, könnte die Antwort lauten: das Licht.

Licht, das mich die Wand emporträgt wie ein Aufwind. An einem sonnigen, nicht zu heißen Tag, an einem abgelegenen Felsen.

Licht dringt durch Stirn und Schädeldach in mich; erhellt die Nacht, die dort über Jahre geherrscht hat, bis ich nur mehr Licht bin; Licht, Licht, Licht, ein unendliches Strahlen und Gleißen.

Doch ist das Dunkel nun außen, fast überall, jenseits der Felsen; als wäre es in die Welt emittiert.

Wenn ich damals, während meines kurzen Studiums, etwa durch einen Korridor an der Uni gehe, in irgendeinem Hörsaal sitze, scheint Mangel an Licht mein Denken zu beeinträchtigen; ich merke, wie ich in dem Dämmer um mich her nur immer wieder „ja, ja, ja …“ sage – man hält mich für einen Idioten.

Lange Zeit später ist dann – aber nun werde ich gleich pathetisch – das Dunkel mein Schicksal geworden. Mein Augenlicht schwindet. Ich bin fast blind. Trotzdem klettere ich noch immer.

Wie geht das überhaupt? Und vor allem: Wie kam es dazu? Dass ich zu klettern anfing und weiterhin klettere. Davon handelt dieser Blog.

Er handelt allerdings in ein Dunkel hinein, wie jenes, das mich mehr und mehr umgibt. Wer werden seine Leser sein? Wird es welche geben? Liest jemand noch längere Texte oder scrollt man nur durch Newsfeeds?

Noch kann ich am Computer arbeiten. Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, zwei bis drei Zentimeter hoch. Aber lange werde ich es nicht mehr können, es sei denn, ich erlerne die Blindenschrift. Dagegen sträube ich mich. Ein Behinderter will ich nicht sein. Doch wenn man eine eigens für Behinderte erdachte Schrift benutzt, ist man es dann nicht unleugbar und endgültig? Behinderte sind weder alt noch jung, weder Mann noch Frau. Sie sind einfach nur behindert. Sie gehen nicht auf Herren- oder Damentoiletten, sie gehen auf Behindertentoiletten. Sie parken nicht im Parkverbot, sie parken auf Behindertenparkplätzen. Jedoch: Ich schweife ab.

Was ich sagen wollte, ist: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit für meinen Bericht. Einen Blog könnte man prinzipiell unendlich fortsetzen; das Web ist geduldig. So aber werde ich mich aufs Wesentliche beschränken müssen.

Ich habe vor, die Namen aller Personen, die hier vorkommen werden, zu ändern. Eine Ausnahme bilden berühmte Kletterer. Man würde ja auch nicht schreiben: „Gerald Röder“ oder „Der Kanzler, der Deutschland von 1998 bis 2005 regierte“. Das wäre ebenso albern wie verwirrend.

Ich selbst werde mich, einer Eingebung folgend, Markus Dengler taufen. Das klingt erdverbunden und mein Lebensweg mag zeigen, dass dies tatsächlich eine Facette meiner Persönlichkeit ist. Der Name im Impressum dieser Seite ist – allen Schlaubergern sei es gesagt – natürlich nicht meiner, sondern der eines entfernten Bekannten, der sich damit einverstanden erklärt hat, dort genannt zu werden. Er liest seine Mails übrigens nicht, geschweige denn Briefe.

Doch tue ich all dies nicht aus Angst vor Verwicklungen, juristischen oder auch nur privaten. Ich hoffe lediglich, auf diese Weise unbefangener schreiben zu können. Vielleicht kann ich überhaupt nur so schreiben, über mich selbst und im Internet. Entweder weil ich ein zurückhaltender Mensch bin oder, wahrscheinlicher, weil ich zur Zeit der Floppy Disks und Wählscheibentelefone geboren wurde, im Jahr 1977. Solche wie mich nennt man heutzutage „digital immigrants“. Und es stimmt: Das Internet ist uns etwas fremd geblieben.

Aber bin ich nicht andererseits ein Inbild des Zeitgeists? Der Unbekannte mit seinem Drang, sich einer virtuellen Öffentlichkeit zu präsentieren, um sich – ja, was? – seiner selbst zu vergewissern?, sich zu behaupten?, darzustellen?, vielleicht gar zu überhöhen? Der letztlich ungreifbare, geradezu unkörperliche Einzelne. Dieses Sich-Zeigen und Doch-nicht-zeigen-Wollen. Ob jemand sich dabei namentlich zu erkennen gibt, mag nicht der entscheidende Punkt sein. Denn ob einer durch Masken spricht, das wissen wir im Netz ja ohnehin nie.

Ihr könnt mich also für lächerlich modern oder peinlich altmodisch halten – das bleibt ganz euch überlassen.

[Der Text ist geplant als eines der ersten Kapitel des in Arbeit befindlichen Romans „Die Nüchternheit der Nullerjahre“. Dieser spielt in der Subkultur der Felskletterer und erzählt die Geschichte einer schwierigen Jugendfreundschaft. Der Roman hat die Form eines fiktiven Blogs.]

 

Arno Dahmer wurde 1973 in Frankfurt am Main geboren. Heute lebt er in Mainz. Er studierte Germanistik, war danach u. a. journalistisch tätig und arbeitet zurzeit als Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er veröffentlichte kurze Prosa in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie den Erzählband Manchmal eine Stunde, da bist Du (Mirabilis, Klipphausen/Miltitz, 2017). Arno Dahmer nahm an der von Kurt Drawert geleiteten Darmstädter Textwerkstatt teil und erhielt für seine literarische Arbeit einige Stipendien sowie einen Sonderpreis beim Uslarer Literaturpreis. Bei kul-ja! publishing erschien im März 2023 sein Roman «Ein Mythos von mir». Aktuell arbeitet Arno Dahmer an seinem neuen Roman, der voraussichtlich 2026 bei kul-ja! publishing erscheint.

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Beitragsbild © Julia Kulewatz