Annie Ernaux «Die Besessenheit», Bibliothek Suhrkamp

Wahrscheinlich kennen sie das Phänomen der Eifersucht. Aber wenn sich Eifersucht mit Besessenheit paart, wenn sich ein ganzes Leben nur noch um das eine dreht, wenn sich der Blick mehr und mehr verengt – wie viel braucht es dann noch, dass Besessenheit zur Katastrophe wird?

Den einen Vorwurf kann man Annie Ernaux nicht machen; jenen fehlender Authentizität. Im Gegenteil. Authentizität ist zum Markenzeichen der Autorin geworden. Sie ist so sehr zu ihrem „Ding“ geworden, dass sich das Thema auf eine fast schon unheimliche Art wieder versachlicht hat. Annie Ernaux schreibt masslos ehrlich, so schonungslos, dass die Autorin selbst fast wieder hinter ihren Schilderungen, ihrem Nachdenken über sich selbt zu verschwinden scheint. Ich sah die Autorin noch nie live. Aber wenn ich ihr bei Interviews ins Gesicht schaue, wenn ich ihr zuhöre, dann ist da eine Frau, die über eine Frau erzählt, die über eine Frau schreibt. Annie Ernaux projiziert beim Schreiben auf Folien, macht ihr Tun, ihr Handeln, ihr Denken zu einem Ding. Sie mischt minimal mit Emotionen, betrachtet sich selbst auf eine manchmal fast befremdlich scheinende Art und Weise sachlich. Gleichzeitig schützt sie sich vor Entblössung, gar vor Scham, nicht zuletzt bei jener ihrer Leser*innen. Annie Ernaux schreibt über das, was jeder kennt. Über Ängste, Manien, über das, was Emotionen anrichten. Es ist kein innerer Blick, keine Perspektive aus dem Auge des Sturms, sondern eine ungemein nüchterne Schilderung dessen, was die meisten Menschen ein Leben lang nicht in Worte fassen können, wo den meisten die Sprache fehlt, wo sich sonst all die Verhärtungen und Knoten bilden, von denen sich ein Grossteil des Gesundheitssystems nährt.

Ich habe schon immer schreiben wollen, als wäre ich bei Erscheinen des Textes nicht mehr da. Schreiben, als würde ich bald sterben, und es gäbe dann niemanden mehr, der urteilt.

Annie Ernaux «Die Besessenheit», Bibliothek Suhrkamp, aus dem Französischen von Sonja Finck, 66 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-518-22562-2

Was Annie Ernaux schreibt, ist Konzentrat. Das manifestiert sich nicht nur in der Anzahl Seiten, die das schmale Büchlein zusammenbringt. Nichts an diesem Buch ist aufgeblasen, aufgehübscht und breitgeschlagen. Annie Ernaux bleibt ganz nah an dem, was sie losschreiben will. „Die Besessenheit“ ist ein verschriftlichter Loslösungsprozess, der Bodensatz einer Auseinandersetzung mit sich selbst in einem Tagebuch. Und doch ist das Buch kein therapeutisches Selbstheilungsprotokoll. Annie Ernaux setzt sich mit Annie Ernaux auseinander, mit einer Person, die von ihren Gefühlen ebenso besessen ist, wie von der Person, der Frau, die ihren Ex unter die Nägel gerissen hat. Jene Frau, die mit jenem Mann zusammen ist, mit dem sie sechs Jahre zusammen war, von dem sie sich trennte, weil sie damals ihre Freiheit zurückgewinnen wollte. Besessen vom Wunsch, den Mann zurückzugewinnen. Besessen vom Wunsch, zu wissen, wer diese Frau ist. Was es ist, das an jener besser sein muss als an ihr. Besessen vom Durst nach Klarheit. Besessen vom Durst nach einem Sieg über ihre vermeindliche Kontrahentin.

Zu dem Zeitpunkt frage ich mich nicht, ob mein Verhalten oder meine Wünsche richtig oder falsch waren, genauso wenig, wie ich es mir hier beim Schreiben frage. Manchmal denke ich, dass man durch diesen Verzicht am sichersten zur Wahrheit vordringt.

Und nicht zuletzt liegt diese Besessenheit auch in ihrem Prozess der Auseinandersetzung, des Nachdenkens, des Schreibens. Das Schreiben ist wahrscheinlich ihre einzige Waffe gegen den Schritt über die Besessenheit hinaus, wissen wir doch, was passieren kann, wenn Besessenheit zur Tat schreitet. Ihre Tat ist das Schreiben. Und weil ich ihr Buch lese, beginnt meine Reflexion, nicht zuletzt jene, ob ich nicht auch solcher Gefühle fähig wäre. Wahrscheinlich ist die Besessenheit in der Eifersucht gar nicht weit von dem entfernt, was sich jemand antut, der ein Buch schreibt. Wie kann man schreiben ohne Besessenheit? Was ist Verliebtheit anderes als Besessenheit?

Schreiben ist im Prinzip nichts anderes als eine Eifersucht auf die Wirklichkeit.

Im 2002 erschienenen Original heisst das Buch „L’occupation“, was der deutschen Übersetzung eine ganz andere Färbung gibt. Annie Ernaux beschreibt eine „besetzte“ Frau. Eine Frau, die unfähig ist, sich auf einem Gedankenkarussel, einem Gedankensog herauszubegeben. Die sich aber auch nicht gegen diesen Zustand zur Wehr setzt, weil sie spürt, dass er Leben bedeutet, dass er Kraft hat, dass er sie bewegt, so sehr, dass sie zu schreiben beginnt.

Schwer beeindruckend!

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als «Ethnologin ihrer selbst». Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, 2022 den Nobelpreis für Literatur.

Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

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Beitragsbild © Heike Steinweg