2016 gab es in Deutschland 335 000 Obdachlose. 35 % mehr als 2010. (In der Schweiz gibt es sie auch – aber keine Zahlen!) Wer in Berlin oder irgendeiner andern Stadt durch die Gassen geht, sieht sie. Sie nicht zu sehen, ist unmöglich. Andrea Gerster erzählt in ihrem neuen Roman „Alex und Nelli“ die Geschichte von Alexander Steiner, der sich irgendwann nur noch Alex, noch später Ale nennt. Und von Nelli, die von Alexanders Verschwinden nicht losgelassen wird. Ein Roman über die Reduzierung mehrerer Leben.
Dem Roman ist ein Zitat von Elfriede Jelinek vorangestellt: „Wenn einer ein Schicksal hat, dann ist es ein Mann. Wenn einer ein Schicksal bekommt, dann ist es eine Frau.“
Alexander Steiner liebt seinen Jaguar, das Raubtier, 500 PS, Acht-Gang-Automatik. Vielleicht liebte Alexander auch Nelli. Aber Alexander liebt sich selbst nicht, genauso wenig wie seine Hände, die er lieber in Lederhandschuhen versteckt. Als die Geschäfte bei Architektur Steiner & Berger schlechter gehen, sein Partner an ihm vorbei aus dem Fenster in den Tod springt, er mit seinem Raubtier eine Frau zu Tode fährt und Nelli ihn verlässt, bleibt nichts mehr übrig. Nichts. „Steiner schrumpft.“ Alexander Steiner taucht ab, nach Deutschland, nach Berlin. Zuerst mit der Absicht, es noch einmal zu versuchen, diesmal als Alex. Was nicht gelingt. Von Alexander Steiner bleibt Ale. Ale ist einer der Obdachlosen in der Millionenstadt, einer von vielen, ein Mann mit Schicksal. Ein Mann, der seine Vergangenheit auszulöschen versucht.
Bei Nelli, die bei Alexander Steiner auszog, waren es weder die kleinen noch die grossen Gemeinheiten, die sie aus der gemeinsamen Wohnung trieben. Nelli war schwanger und Alexander überzeugte sie davon, dass es besser sei, das Kind wegzumachen. Was man aus Nelli wegmachte, war aber viel mehr als das ungeborene Kind. Und weil dieses ungeborene Kind Nelli nicht loslässt, es sich im Laufe des Romans immer deutlicher als Vorstellung Nellis manifestiert, macht sich Nelli auf die Suche nach Alexander. Auf die Suche nach dem Verlorenen.
„Alex und Nelli“ ist keine Liebesgeschichte. Aber die Geschichte verlorener Liebe. Alexander glaubt sich von aller Liebe verlassen, lässt alles zurück, kappt alles. Nelli sucht nicht nur nach Alexander, auch nach dem was er ihr genommen hatte, nach dem, was ihr das Leben doch versprochen hatte, die Liebe. Alexander taucht ab, verschwindet, wird zusammengeschlagen, bleibt liegen als Haufen Elend. Was ihn am Leben lässt, ist die wiedergefundene Liebe zum Leben, das absolut reduzierte Sein.
«Man kann so oder so glücklich werden, muss aber nicht.»
Der Handlungsverlauf des Romans strapaziert die Grenzen des Konstruierten arg. Zufälligkeiten, die ich nur schwer nachvollziehen kann und Szenen, deren Glaubwürdigkeit meine Vorstellungskraft zu sehr ausreizt. Trotzdem überzeugt der Roman, die knappe Sprache, wie sehr sich die Autorin auf das Wesentliche fokussiert. Andrea Gerster spiegelt die Gesellschaft, lotet Gegensätze aus, packt jedoch viel in die Geschichte hinein. Allein Alexanders Herkunft, die Geschichte seiner frühsten Kindheit, erinnert an Bilder aus dem Film Trainspotting. Und das traumhafte Erscheinen des ungeborenen Kindes bei Nellis Suche nach dem nicht gewordenen Vater trägt das Geschehen an den Rand des Realen. Das Ungeborene, das sich einmischt. Nellis Kind, dass sie damals hatte abtreiben lassen, ohne wirklich darüber nachzudenken.
„Alex und Nelli“ ist die Geschichte von Lügen. Alex selbst belügt sich lange genug, bis die dünne Schicht nicht mehr trägt und er einbricht. Nelli lügt nicht weniger. Sie trennt sich mit einer Lüge von ihrem neuen Freund Len, reist mit einer Lüge nach Berlin und lockt Alex mit einer Lüge aus seinem abgewandten Dasein. Andrea Gerster offenbart, was Lebenslügen anrichten, dass Wahrhaftigkeit und Wahrheit vielleicht doch nicht ohne Lüge auskommen, dass Glück nicht immer dort liegt, wo man sucht. Weder Nelli noch Alex wollen die Konfrontation, obwohl sie Zufall und Absicht mehrfach aneinander vorbeischrammen lassen. Zufälle und Absichten, die mir nicht immer glaubhaft erscheinen.
Andrea Gersters sechster Roman, der vom Lenos Verlag als „tragikomisch“ angepriesen wird, will viel, schafft aber nicht alles. Lesenswert, unterhaltsam, herausfordernd und gut geschrieben ist er aber allemal. Ein Roman, der den Nerv der Zeit trifft. Ein Roman über die Einsamkeit und Zerrissenheit des Menschen.
Andrea Gerster, geboren 1959, lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane, Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffenlicht. Andrea Gerster ist zudem Progammverantwortliche im Literaturhaus Lichtenstein.
Buchvernissage «Alex und Nelli»
Dienstag, 24. Oktober 2017, 19 Uhr, Hauptpost, Raum für Literatur, st. Leonardstrasse, St. Gallen, Buchfest mit Lesung und Apéro, Moderation Rebecca C. Schnyder, Büchertisch Buchhandlung Comedia, St. Gallen.
gedruckt im Kulturmagazin „Saiten“, Oktoberausgabe 2017
Titelfoto: Sandra Kottonau