Peter Weibel «Mein Faden ist blau. Für Beat Brechbühl, Lyriker, Verleger, Freund»

Er steht nicht am Bahnhof, nicht wie all die Jahre zuvor, wenn er mich erwartet hat, auch nicht an der Handpresse im Verlagskeller, der kahl geworden ist ohne Geschäftigkeit, ohne Menschen, er sitzt gedankenverloren in seiner Computernische an einem Glücksspiel. Als würde gerade das noch bleiben, nach so viel verlorenem Glück, die Utopie Spielglück. Als würde es einem zustehen, der die Utopie immer eingefordert hat gegen jede Berechnung

Weil ich nicht singen kann,
bin ich Lyriker geworden

Und Verleger. Wenn er aufsteht, geht er gebeugt durch den hallenden Raum, der aussieht wie ein Museum für die vergessene Kunst des Handpressedrucks. Manchmal sucht er etwas, bleibt verloren stehen zwischen Büchern und Bodoniblättern, die ihn umgeben wie eine Aura. Namen, denen er eine Stimme gegeben hat gegen das stumpfe Gedächtnis der Gebrauchswelt. Izet Sarajlic, Galsan Tschinag. Rafik Schami. Er steht da wie ein erratischer Block in einem verlorenen Land, und in Gedanken rufe ich ihm zu, man kann ein Land tilgen, nicht sein Vermächtnis, das Wort als letzter Hort der Utopie lässt sich nicht vernichten

Die Jagd auf dich
ist eröffnet

Er sagt: Was geschieht mit einem, dem alles genommen wird? Kein Verlagshaus mehr, keine Fahrten zur Karthäuse mehr, überhaupt keine Ausfahrten mehr. Keine Freiheit mehr, sich selbst, den eigenen Tag zu wählen, dafür Überwachung durch den Pflegedienst, am Morgen um acht, am Abend um Viertel vor sieben

Hast alles hergegeben: dich,
deine Arbeit, deine Begabung, deine Zeit

Der Verlag hat die Welt weit gemacht, er hat die Welt in die Provinz getragen, er hat alles eingefordert und alles wieder genommen. Und er hat seine Begabung geschluckt – die Stimmen der anderen wurden ihm wichtiger als seine eigene. Wie kann man schreiben, wenn die Stimmen der anderen darauf warten, gehört zu werden, wenn sie in jeden Winkel des Tages drängen, selbst in den Traum?

Ich liebe eine Linde
niemandem sage ich welche

Die alte Holzbank unter der Linde steht noch immer da, ich bin mir sicher, hier hat er auch mit Sarajlic gesessen, hier hat er mit Sarajlic darüber gesprochen, dass es Kriege gibt, solange keiner dagegen anschreibt, solange Kriegsgedichte den Tod des Vergessens sterben wir die Opfer des Krieges. Und hier erklärt er mir, was mit einem geschieht, wenn die verlässlichen Lebenspunkte wegschwimmen, die sicheren Behausungen, wenn man sein Vertrauen an die falschen Menschen verschenkt

Weil ich nicht lügen kann,
bin ich Dichter geworden

Das Lügen hat er anderen überlassen. Freunde können zu Feinden werden, es kann auch sein, dass er zu viele Feinde gesehen hat. Jetzt sieht es aus, als wäre jeder mit ihm befreundet, man begegnet ihm respektvoll, manchmal besorgt, im Areal des Eisenwerks redet man ihn an wie eine Legende, ich weiss nicht, ob es ihn freut oder nicht. Ob es ihn freut, auf die immer gleichen Fragen antworten zu müssen

Weil ich nicht Englisch kann, geriet
ich gleich aus dem Kindergarten nach Italien, dort flog mir
ein Buchverlag entgegen, den ich später gründete

Was geschieht, wenn das Gedächtnis immer schlechter wird? Manchmal sucht er Namen, Bezugspunkte, er weiss, was einen erwartet, der sich langsam verliert, er hat es bei anderen gesehen. Die weit verzweigte Gedankenwelt im Kopf, eine grosse Landschaft ohne Grenzen hat ihn von einem Kontinent zum anderen getragen, jetzt verängstigt sie ihn

Weil ich oft das wuchernde Leben verpasse,
habe ich Lücken in meiner elften Biografie

Ich weiss nicht, was geschieht, wenn man die Handpressen abmontiert und wegschafft wie ein stockendes Herz, das vom Blutkreislauf abgeschnitten wird

Sein mächtiges Lachen ist leise geworden, aber ich höre es noch immer laut über den Seerücken rollen. Auch seine wortgewaltigen Geschichten höre ich noch immer, epische Erzählungen, in denen man hängen bleibt, sie haben ihm Türen geöffnet und manchmal auch wieder verschlossen. Mir bleibt er ein Freund aus Granit – ein Turm von Mensch, der trotzige Bücher formt, die einen Hauch von Anarchie in die Welt hinaus schicken. Ein Unbeugsamer, der sich nicht brechen lässt, auch wenn die Jäger längst freie Schussbahn haben

Türme fallen nicht, sie werden zu Fall gebracht.

Unten sagst du: Dort oben bin ich gewesen. Ich war
oben, ganz sicher – und genau dieser Satz sagt, dass er
sich nicht mehr so sicher ist

Ich frage nicht, warum bist du dir nicht mehr so sicher, ich hätte ihn fragen müssen, bevor ich gehe. Ich hätte sagen müssen, es gibt kein unten für den, der oben gewesen ist, die freie Sicht oben ist nicht verhandelbar – man kann ein Verlagshaus räumen, ein Lebenswerk nicht

Aber mein Faden ist blau
und er ist endlich

Endlich ist nur die physikalische Vermessung, aber die Sprache der Bücher bleibt.

Juni 2021

Die Lyrikzitate sind Beat Brechbühls Lyrikband „Böime, Böime! Permafrost & Halleluia“ entnommen.

Beitragsfoto © Martin Stiefhofer