Der Alpstein hat sich an einer bestimmten Stelle tief gesenkt und um fast 1000 Meter nach Norden verschoben. Die Saxerlücke ist Teil dieser uralten Verwerfung. Wanderer geniessen dort seit jeher die herrliche Aussicht; für mich aber zeigt sich an dieser Bruchstelle ein anderes Bild. Die Saxerlücke ist Riss und Verbindung zugleich, ein Ort der Möglichkeiten, des Hätte-sein-Könnens.
Wie jedes Jahr sassen wir an Heiligabend am Esstisch, den meine Grossmutter gedeckt hatte. Goldumrahmte Teller und Kristallkelche machten aus dem Fest etwas Erhabenes. Die Sitzordnung war immer dieselbe. Am Kopfende blieb jedoch Jahr für Jahr ein Stuhl frei, trotz aufgedecktem Geschirr, und es schien, als erwartete Grossmutter einen weiteren Gast. Sämtliche Fragen, die sich um diesen Platz drehten, alle Mythen, die sich um ihn rankten und von uns aufgetischt wurden, entlockten Grossmutter nie das Geheimnis. Selbst Grossvater hatte, als es noch lebte, das Ritual nicht verstanden.
Ich nahm an, dass sich mittlerweile niemand mehr darum scherte, der Sache auf den Grund zu kommen. «Die Alten haben ihre Marotten», sagte meine Mutter lachend und füllte den Rotwein in die Gläser.
Wir assen Braten, Kartoffelstock und warmes Apfelmus. Die Gläser klirrten in immer kürzeren Abständen. Meine Familie wusste sich zu amüsieren: Viele Witze flogen quer über den Tisch, nur meine Grossmutter blieb seltsam still.
Kurz vor Mitternacht machten sich die Gäste auf den Weg zur Messe. Ich blieb. Etwas hielt mich zurück, vielleicht war es Grossmutters Blick, der mich immer wieder suchte. Er hatte etwas Forderndes. Da ich ihre einzige Enkelin war, hatten wir eine besonders enge Bindung.
Es roch nach Kaffee und Kerzenwachs. Ich wartete auf dem Sofa, bis sie aus der Küche zurückkehrte. Als sie erschien, trug sie einen Krug in den Händen und ein Album unter dem Arm. Sie stellte den Krug auf den Tisch, setzte sich mir gegenüber und strich mit dem Daumen über den Einband. Sie hob den Deckel. Das Foto zeigte die Saxerlücke. Erst beim zweiten Blick sah ich ihn – einen Mann mit schwarzem Haar, die Hände in die Hüften gestützt. Da begann sie zu erzählen.
Von Aldo, dem italienischen Hilfsarbeiter.
Wie rasch das Gerede damals im Dorf die Runde machte.
Wie Zettel unter der Tür lagen, auf denen «Tschingge-Freundin» stand.
Ihr Vater hatte sie fortan nicht mehr ausgehen lassen. Doch sie schlich sich heimlich davon, um Aldo zu treffen. Zuerst in den Wald, an den Fuss des Berges, schliesslich zur Saxerlücke.
Aldo wollte in der Schweiz bleiben. Das Bürgerrecht, sagte sie, habe ihm die Gemeinde angeboten – für vierzigtausend Franken. Für ihn war das eine unüberwindbare Summe. Also kehrte er nach Italien zurück. Für immer.
Grossmutter legte die Hand auf das Foto.
Meinen Grossvater habe sie fünf Jahre später kennengelernt, sagte sie. Es sei Liebe gewesen, wenn auch eine ruhigere. «Vergleichen konnte ich es nicht», fügte sie hinzu, «es war einfach anders.»
Ich fragte sie, ob sie den leeren Stuhl seither für Aldo freihielt.
Sie lächelte und schüttelte den Kopf.
«Nicht ganz», sagte sie. «Er steht für das Ungelebte, die verpassten Gelegenheiten. Und die Geschichten, die man sich darüber erzählt. Sie wiederholen sich. Gewisse Geschichten wiederholen sich.»
Wir sassen noch lange beisammen, bis draussen das erste Licht durch die Fenster drang. Am Morgen nahm ich den frühen Zug nach Hause.
Vor ein paar Wochen ist Grossmutter gestorben.
Wenn der Schnee schmilzt, werde ich zur Saxerlücke hinaufgehen. Vielleicht hat sich der Berg seither ein wenig weiter verschoben.
Gabriela Caponio, 1975, wohnt im Kanton Zürich. Sucht in Archiven nach Geschichten, besonders nach Kriminalfällen aus dem Zürich der 20er. Das Interesse gilt allgemein dem Proletariat und den Unterprivilegierten.
Die Illustration von Lea Le ist ein Geschenk von literaturblatt.ch und der Künstlerin als Preis für einen der 7 ausgewählten Texte.

