Grandios! Christoph Ransmayr «Egal wohin, Baby», S. Fischer (22)

Lieber Bär

Ich lese die Bücher von Christoph Ransmayr schon eine ganze Weile. Seinen ersten Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ als ich vor 40 Jahren Lehrer in einer kleinen Dorfschule war. Sechs Klassen in einem Raum. Die Kinder kamen aus den umliegenden Höfen und verliessen das Haus wieder nach dem Unterricht, während ich alleine zurückblieb, ohne Anschluss ans Dorf, ein Aussenseiter. Mein Leben damals, frisch von der Ausbildung, bestand aus Unterrichten, Vorbereiten, Essen, Schlafen – und Lesen. Dieser Abenteuerroman, der damals in einem kleinen Verlag erschienen war (Christian Brandstätter Verlag, mit einer Auflage von 4000 Stück) war genau das richtige, um meine gebeutelte Seele (auch ich fühlte mich auf einer lebensbedrohlichen Expedition in einer menschenfeindlichen Gegend) mit dem Duft von Abenteuern zu trösten. Damals war Ransmayr noch ein Geheimtipp, ein Versprechen. Heute würde es niemanden erstaunen, würde nach Peter Handke ein weiterer Österreicher den Nobelpreis für Literatur bekommen. Diesmal ganz bestimmt mit deutlich weniger Nebengeräuschen (ausser der Tatsache, dass mit Ransmayr erneut ein weisser, alter Mann Preisträger wäre).

Damals schrieb Ransmayr seinen arktischen Epos ohne je einen Fuss auf das Packeis gesetzt zu haben. Reine Immagination mit einer gehörigen Portion Recherche. Heute funktioniert Ransmayrs Schreiben noch immer so, aber auch ganz anders. Ransmayr ist ein Reisender, einer, der seine Bilder, Erfahrungen und Begegnungen als grossen Schatz in sein Schreiben einfliessen lässt, was an sich alle Schriftsteller*innen tun. Aber Ransmayr hat mit seinen vielen Reisen, aus denen er in seinem neuen Buch „Mikroromane“ ein literarisches Fotoalbum machte, ein ganz eigenes Reisebuch geschrieben. „Mikroromane“ ist durchdrungen von Respekt, Ehrfurcht und Dankbarbeit. Die Sammlung dieser Texte, die meist nicht länger sind als zwei Seiten, sind Miniaturromane, nicht bloss Zeugnisse oder Berichte. In sich abgeschlossene Erzählungen, in denen Entwicklung passiert, die nicht bloss Erfahrungen abbilden, sondern Erzählungen, die eine äussere Reise abbilden, innere Reisen.

Ransmayrs Mikroromane sind Konzentrate, Handlungs- und Sprachkonzentrate. Nichts ist zuviel, kein mäanderndes Erzählen, keine Inszenierungen, weder von seiner Person als Reisender, noch von den Orten, den Menschen, zu denen ihn seine Reisen führen. Wer in diesem Buch liest, wird von Andacht erfüllt. Seine Mikroromane sind Ehrerbietungen und Zeugnisse eines Mannes, der sich seiner Privilegien ganz und gar bewusst ist. Es gibt Reisende und Touristen. Auch wenn Ransmayr eines seiner Bücher mit „Geständnisse eines Touristen“ betitelt. Ransmayr tut das meiste nicht, was der typische Tourist sonst tut. Ransmayr ermöglicht mir, zuhause zu bleiben und doch zu reisen. Er nimmt mich an der Hand zu Menschen, die er immer wieder besucht, die ihm wie die Orte selbst ans Herz gewachsen sind. Wäre man sich der Qualität dieses Buches bewusst, müssten Airlines und Hotelkomplexe auf der ganzen Welt mit ordentlichen Einbussen rechnen.

Und „Mikroromane“ liest sich atypisch, eben wie ein Fotoalbum. Man schlägt es irgendwo auf und liest. Man liest immer und immer wieder. Vielleicht sogar vor dem Einschlafen vorgelesen, als Einladung in einen guten Traum. Wenn es ein Buch gibt, mit dem man ideal in den Ransmayr’schen Kosmos einsteigen sollte, dann ist „Mikroromane“ der beste Einstieg in grosse Sprachkunst und tiefst empfundene Empathie.

Selten verliess ich eine Lesung eines Autors derart erfüllt und beschenkt, wie jene mit Christoph Ransmayr.

Liebgruss

Gallus 

Was geschieht,
wenn ein Mensch seine Entschlüsse gefasst,
alle notwendigen Vorbereitungen getroffen hat
und einen ersten Schritt tun will, seinem Ziel entgegen,
und was, wenn er endlich
einen Fuss vor den anderen setzt?
(aus «Der fliegende Berg»)

Lieber Gallus

Dies war 2006 mein Einstieg in den Kosmos von Christoph Ransmayr. An einer Tagung im Bildungshaus Hertenstein am Vierwaldstättersee zeigte mir Werner Hegglin damals in einer Pause ein blau gefasstes Buch: «Das ist etwas für dich!» Wie recht er hatte! Die ersten Zeilen Ich starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel am vierten Mai im Jahr des Pferdes rissen mich als Hausarzt und Alpinist sofort mit. Ich schaute zwischen Felszacken und eisigen Abgründen in die Tiefe, bangend, ob der Gipfel von den beiden Brüdern erreicht werden kann. Ich las es mit Begeisterung, war mit den beiden in eisiger Höhe, bei den Nomaden in Ost Tibet und in Irland unterwegs. Eine beeindruckende, tief berührende, abenteuerliche Reise, die mich aus dem oft belastenden Alltag als Hausarzt wegtrug.

Später begleitete mich «Schrecken des Eises und der Finsternis» auf Skitouren in Spitzbergen bis aufs Packeis und «Cox oder Der Lauf der Zeit» ersetzte eine nie stattgefundene China-Reise wunderbar. 

Ich bewundere die Vielfalt in Form und Sprache in seinen Büchern. Ein Suchender unternimmt Reisen und lässt sich in Abenteuer ein. Neugier und die Liebe zu den Menschen geben den Werken Tiefe und regen uns zum Nachdenken an. Umso mehr freute es mich, dass wir vor Kurzem dem Autor bei der Schweizer Buchvernissage von «Egal wohin, Baby» persönlich begegnen durften. Christoph Ransmayr zeigte sich mir als sorgfältig und respektvoll arbeitender Schriftsteller, als ein offener Mensch mit Respekt vor fremden Kulturen und als begnadeter Vorleser. 

In seinem neusten Werk, in den siebzig Mikroromanen, tauchen wir ein in wirklich erlebte, erfahrene Begegnungen auf der ganzen Welt. Der Autor gibt sich den Namen «Lorcan», um sich von der Last der Erinnerungen zu befreien und in einen gelassenen Erzähler zu verwandeln. Die Abbildung eines Schnappschusses des Autors vor Ort ist jeweils vorangestellt. Jede Geschichte hat einen Höhepunkt, eine spezielle Aussage, wir erleben Vergangenes und Aktuelles in unterschiedlichen Landschaften und Gegenden, oft mit historischen Ereignissen verknüpft. Jeder Mikroroman hat einen Titel. Drei Beispiele: 

«Gefallener Himmel»
Ein trügerisch schönes Landschaftsbild aus Österreich, wo sich der Himmel in einem See spiegelt. Ich aber erfahre von einem Konzentrationslager aus dem zweiten Weltkrieg und der Produktionsstätte von Massenvernichtungswaffen in dieser Gegend. Lorcan wollte auf dem Weg zu ihren Verstecken im Hochgebirge biwakieren, um im Schlafsack den Auf- und Untergang jener Sternbilder zu beobachten, die den Verfolgten in der nächtlichen Weglosigkeit als Orientierung gedient hatten. Staunen und Erschrecken sind nahe beieinander.

«Am Ende der Welt»
Eine Zeichnung von zwei Pferden des siebenjährigen Mädchens Emily Christian auf der weit abgelegenen Südseeinsel Pitcairn im Pazifischen Ozean. Pferde, die sie sich sehnlichst wünscht, obwohl sie noch nie ein Pferd gesehen hat. Sie glaubt, ihr Leben auf dieser Insel, wo es keine Pferde gibt, verbringen zu müssen. Wir erfahren zudem von kolonialen Kämpfen, Sklaverei und Meutereien ihrer Vorfahren auf und um Pitcairn. Emilys Zeichnung wird zur Brücke in die weite Welt. 

«Heiliges Wasser»
Also könne er (Ali Bazhi auf dem Foto) nun einen Reisenden nur bis zu den Gebirgszügen der algerischen Sahara führen, denn nachdem es niemanden mehr gab, der die Bewegungen des Sandes, wandernder, irrlichternder Dünen, die Geröllfelder und unüberwindlichen Felsbarrieren über mehr als eintausendfünfhundert Kilometer so gut kannte wie sein Vater, müsste nun in jeder Oase nach einem neuen Ortskundigen gesucht werden.  Anstatt nach Timbuktu führt Ali den Reisenden an einen friedlicheren Ort, nämlich zu einer Oase mit dem Namen «Heilige Quelle». Unter Dattelpalmen trinkt Lorcan das glasklare frische Quellwasser.

Es geht beim Reisen immer um den Weg zu den Menschen, so Ransmayr in der «Sternstunde Religion» am Fernsehen. Seine Empathie und Liebe zur ganzen Schöpfung erfüllt mich mit Hoffnung für unsere arg misshandelte Erdkugel. «Egal, wohin Baby» ist ein weiteres beglückendes, heilendes Werk von Christoph Ransmayr. Arznei gegen die Sterblichkeit – mit seinen eigenen Worten!

Ich wünsche diesem Meisterwerk viele Leserinnen und Leser.

Herzlich

Bär

Sternstunde Religion vom 16.05.2022

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg«, »Cox oder Der Lauf der Zeit«, »Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten« und dem »Atlas eines ängstlichen Mannes« erscheinen Spielformen des Erzählens, darunter »Damen & Herren unter Wasser«, »Geständnisse eines Touristen«, »Der Wolfsjäger« (gemeinsam mit Martin Pollack) und »Arznei gegen die Sterblichkeit«. 2022 erschien die Sammlung von Gedichten und Balladen »Unter einem Zuckerhimmel« (illustriert von Anselm Kiefer), 2024 der Erzählband »Als ich noch unsterblich war« sowie der Band »Egal wohin, Baby« mit Fotografien des Autors. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band »Bericht am Feuer«. Für seine Bücher, die in mehr als dreissig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen.

Webseite des Autors

Foto von Christoph Ransmayr © Robert Brembeck
Fotos aus «Mikroromane» © Christoph Ransmayr, S. Fischer Verlag