«Das Linksliegenlassen der Welt ist eine anspruchsvolle Sache» (11)

Lieber Gallus

Erstmals habe ich ein Buch von Arno Geiger gelesen und bin nachhaltig berührt. «Reise nach Laredo» nehme ich immer wieder vom Büchergestell.

Karl hat als König abgedankt, sich in ein Kloster zurückgezogen. Sein hässlicher, stinkender nackter Körper wird ins Bad gehoben, so beginnt dieser Roman. Krank und fiebrig erlebt er dann eine Traumwelt bis zu seinem Tod, wo er sagen kann: Jetzt, Herr, komme ich.

Doch es ist kein historischer Roman, die Fragen, die auf dieser Reise auftauchen, sollte sich jeder von uns stellen, es geht um uns! Das macht das Buch so aktuell. Es geht um das Wesen des Menschseins.

Arno Geiger «Reise nach Laredo», Hanser, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-446-28118-9

Karl erlebt in den Stunden, Tagen bis Laredo erstmals echte Freundschaft und kurze glückliche Momente. Er trinkt, tanzt und fragt sich Beginne ich jetzt zu leben? Was bedeutet das für das Vorher? Die Reise auf einem Pferd durch eine karge, bergige, heisse Gegend wird zu einer schmerzhaften, aber auch versöhnenden Reise zu sich selbst. Die Begegnung mit jungen Leuten und das Trinken im Wirtshaus spiegelt Verpasstes im Leben von Karl, er muss loslassen und gewinnt. Einzigartig die Sterbeszene am Meer: Das war’s.

Was die Mönche in den Händen halten, ist grausam wirklich, ein toter Körper, ein vollständig nebensächliches Ding, in dem alles gestorben ist, auch das Leid, das diesen Körper so zugerichtet hat.

Geschrieben in einer kühlen Sprache, voller realistischer Bilder, teilweise etwas überzeichnet. Die karge baumlose Hügellandschaft im Hintergrund ergibt eine archaische, biblische Atmosphäre. Ein Buch, das auf packende Weise zum Nachdenken anregt.

Ich bin gespannt, was du zu diesem Buch zu sagen hast.
Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Ich besuchte eine Lesung von Arno Geiger in St. Gallen. Er las und erzählte viel von sich. So wie er in diesem «historischen» Roman von sich erzählt. Arno Geiger ist studierter Historiker. Er weiss sehr genau, dass er die Geschichte von Kaiser Karl V nicht einfach «erfinden» kann. Aber Geiger interessiert sich als Schriftsteller nicht für die Geschichte jenes Kaisers (1500 – 1558), der Herrscher über ein Weltreich war. Historiker würden über seinen Werdegang, seine Intrigen, sein politisches Kalkül, seine Kriege berichten. Arno Geiger interessiert sich nur für die beiden Jahre nach seiner Abdankung, nicht für die Zeit mit der Krone, sondern jene ohne. Über einen Mann, so alt wie Arno Geiger selbst, von Macht und zügellosem Leben zerfressen zum Privatmann wird. Mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen, mit Fragen, die zeitgemässer nicht sein können: Wer bin ich? Was will ich sein? Ein Mann, der sich selbst begegnen will und sehr wohl spürt, dass diese Begegnung nicht ohne ein Gegenüber stattfinden kann.

Eine harte Mission, sich selbst zu begegnen. Mit dem Tod seiner Frau, Königin Isabella, war Karl 38 und trug danach nur noch Schwarz. Unter dem schwarzen Mantel ein Mann von Gicht und Malariaschüben zerfressen. Als Herrscher eines Weltreiches ging es nie um ihn selbst. Karl freundet sich mit seinem elfjährigen Pagen Geronimo an, einem Kind, das nur das Jetzt kennt und ungefiltert zu sprechen wagt. Sie türmen aus dem abgeschiedenen Kloster mit Ross und Maultier Richtung Norden an Spaniens Küste, in die kleine Hafenstadt Laredo. Ein Tripp durch die Wirren der Zeit, ein Tripp, bei dem sich Karl immer wieder in den Begegnungen mit dem menschlichen Elend gespiegelt sieht.

Er habe wenig recherchiert (eine Aussage eines Historikers, die man wahrscheinlich relativieren muss). Aber er brauche einen festen Boden, auf dem er seine inneren Bilder wachsen lassen könne. Es sei auch ein Buch über sich selbst, über das Altern, das Wirken der Selbstreflexion, über das Wissen darum, dass Geist, Körper und Seele nur als Einheit verstanden werden können. Karl weiss, dass er in einem Zwischenreich existiert, nicht mehr der Herrscher, aber auch noch nicht gestorben, einem Fegefeuer mit der Hoffnung auf Läuterung und Erlösung.

Wer den Zenit seines Lebens erreicht hat, weiss, dass es vieles gibt, was nicht mehr zu korrigieren ist. Wer mit Krankheit und langsamem Sterben zu kämpfen hat, hofft unweigerlich auf eine Form der Erlösung. Schon deshalb ein wichtiges und zur Selbstreflexion animierendes Buch. Unbedingt lesenswert.

Liebe Grüsse

Gallus

Arno Geiger, 1968 in Bregenz geboren, studierte Literaturwissenschaft und lebt in Wolfurt und Wien. Er ist Schriftsteller und Videotechniker bei den Sommerfestspielen Bregenz. 1997 erschien sein Debütroman «Kleine Schule des Karussellfahrens». 1998 wurde ihm der New Yorker Abraham Woursell Award verliehen. Für seinen Roman «Es geht uns gut» erhielt er 2005 den Deutschen Buchpreis.